Johann Wolfgang von Goethe hat gar nicht allzu oft Spuren in Textbüchern zu Opernstoffen hinterlassen: da fallen einem vor allem die französische romantische Opernbühne und der übermächtige Faust ein sowie Ambroise Thomas' Mignon, die aus dem Land kommen will, wo die Zitronen blühen. 1774 landet der junge Goethe mit einem gefühlsbetonten Briefroman über den Rechtspraktikanten Werther, der bis zu seinem Suizid über seine unerfüllte Liebe zu der verheirateten Charlotte berichtet, einen der ersten Bestseller der deutschen Literatur.
Ein klassisches Drama sind Die Leiden des jungen Werther nicht. Aber gleich drei französische Autoren, Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann, haben daraus ein Libretto verfasst, aus dem Jules Massenet sein Drame lyrique Werther schrieb. Nachdem jedoch das Pariser Publikum das Interesse am 100 Jahre alten Briefroman zu verlieren schien und zuvor auch Gounod wenig Erfolg mit seiner Vertonung hatte, lehnte der Direktor der Pariser Opéra Comique das Stück ab. Als das Haus auch noch im gleichen Jahr abbrannte, konnte das Werk erst 1892 an der Wiener Hofoper seine Uraufführung erleben, in einer deutschen Übersetzung.
Massenets Oper verkörperte intensiver als andere zuvor den Konflikt zwischen individueller Freiheit und dem strengen Rahmen sozialer Konventionen. Die detaillierte Darstellung innerer Gefühlsregungen, der Pessimismus von Werthers tragischem Ende und die Frage nach dem Platz der Frau in der Gesellschaft drückten gut die Unsicherheit aus im Bürgertum der Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Massenet entwarf dazu unvergessliche musikalische Motive, um besondere emotionale und dramatische Momente zu veranschaulichen; von Wagner ließ er sich in der Verwendung von Leitmotiven inspirieren. Oft scheint es, als würde das Orchester singen, was mit der Stimme nicht mehr gesagt werden darf. Natürlich wird Massenets Libretto nicht den philosophischen Hintergrund des Briefromans einlösen; seine Musik entwickelt sich aber unmittelbar aus den im Brieftext geschilderten Emotionen.
In der Münchner Inszenierung des Werther am Gärtnerplatztheater gelang dem Orchester unter umsichtiger Leitung von Oleg Ptashnikov schillernde, luftige Klangkultur, ein fein gearbeiteter, effektvoller Melodienzauber. Die zahlreichen solistischen Anforderungen der Partitur setzten die Orchestersolisten mit Bravour um. Spannend gerieten bereits die vier Orchestereinleitungen, während denen Text-Ausschnitte aus Goethes Leiden des jungen Werther, wie von unsichtbarer Hand an der Schreibmaschine getippt, auf den geschlossenen schwarzen Vorhang projiziert wurden.
Herbert Föttinger, ebenso Schauspieler wie Direktor des Wiener Josefstadt-Theaters, wählt für die Inszenierung einen im besten Sinne konventionellen Ansatz. Er modelliert in München keinen gekünstelten Gedanken-Überbau, sondern ein ruhiges, tief auslotendes Verständnis der Charaktere, das bei präziser Personenregie jedem Moment die passende Geste, Körperdrehung, den beziehungsreichen Blick zuordnet. Den in der Oper bereits angelegten Handlungsablauf lässt er somit sich organisch entwickeln, fast innerem Gesetz folgend. Walter Vogelweiders Bühne liefert dazu mit Blick durch eine klassizistische Wohnung, deren raumhohe Fenster, Bildergalerie und geöffnete Doppeltüren aufgeräumte und ansprechend elegante Weitläufigkeit vermitteln. Nur in Werthers Studierstube, dem typischen Bild eines Künstlers gemäß, herrscht im vierten Akt ein ziemliches Durcheinander; lediglich seine dichterischen Entwürfe hängen da sauber geordnet an der Wand. Aus der Zeit der Opernkomposition stammen Alfred Mayerhofers Kostüme.

Überaus warmherzig wirkte der Beginn des Werks, in der der Amtmann in der nordhessischen Stadt Wetzlar, Vater von Charlotte und Sophie und ohne eigenen Taufnamen, mitten im Sommer mit seinen Kindern ein Weihnachtslied einübt. Beim Auseinanderjagen umschwärmen sie Charlotte, die Mutterstelle bei ihnen einnimmt sowie die quicklebendige Sophie, die für Werther schwärmt, bei Goethe gar nicht vorkommt und ein nahezu soubrettenhaftes Gegengewicht zu den anderen Figuren bildet. Und Werther, offensichtlich wohlgelittener Gast im Hause des Amtmanns, kommt hinzu, um Charlotte, deren Verlobter Albert verreist ist, zu einem Fest abzuholen. Nicht schwer zu erkennen, dass es zwischen Charlotte und Werther, beide sehr kunstaffin, kräftig funkt. Aber Charlotte dämpft immer wieder Werthers Avancen, da sie ihrer sterbenden Mutter geschworen habe, Albert zu heiraten.
Daniel Gutmann verlieh dem Albert mit kräftigem Bariton eine nahezu Angst einflößende Autorität, überraschte daneben im freundschaftlichen Umgang mit Werther. Mina Yu glänzte als angemessen leichtfüßige Sophie mit leuchtendem Sopran.
Mit bewegendem Spiel hängte Alexandros Tsilogiannis im zweiten Akt Werthers Selbstmord-Gedanken nach, als Charlotte unerreichbar wird; ein halbes Jahr Abwesenheit anschließend. Dann wurde seine große Arie „Pourquoi me réveiller” im letzten Akt zum Höhepunkt, wenn sich beide nach seinem Suizid erneut ihre Liebe gestehen. Nachdem Tsilogiannis zu Beginn bei tenoralen Höhen angestrengt wirkte, war nun sein stimmlicher Ausdruck überzeugender, die Wahl der Pistole glaubhafter. Sophie Rennert entzückte als Charlotte ohne Einschränkungen mit warm-timbriertem Mezzo und begeisterte von Anfang an mit intensivem Spiel und einer Leidenschaft, die unter die Haut ging. Beeindruckend beide in Werthers Sterbeszene im letzten Akt, wenn Werther in Charlottes Armen glückselig seine Ruhe findet. Es ist Weihnachten geworden, „Noël, noël” singen die Kinder des Amtmanns inbrünstig im Chor.