Richard Wagner verstand es wie kaum ein zweiter, antike, heidnische oder mittelalterliche Mythen auszugraben und sie in seinen Opern, neu zusammengefügt, wiederauferstehen zu lassen. Dieser Modus Operandi findet im Parsifal, seiner letzten Oper, seinem Weltabschiedswerk, ihre vollendete Form. Ob mit seinen evidenten Parallelen zur christlichen Erzählung eines Heilsbringers oder den mannigfaltigen Quellen der Gralsmythen – Parsifal ist und bleibt Wagners geheimnisvollstes und diffizilst zu ergründendes Werk.

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Nicholas Brownlee (Amfortas)
© Monika Rittershaus

Dass sich auch die Regisseurin Brigitte Fassbaender dieser Faszination nicht verwehren konnte, wird bereits im ersten Akt ihrer Frankfurter Neuinszenierung deutlich. Ob Wagners Gedanke der Rettung der Religion durch die Kunst, Nietzsches Urteil des Parsifal als Werk der christlichen Perversion oder die wie von Thomas Mann treffend formulierte „Rückwärtsgewandtheit und der dunkle Vergangenheitskult“ – all diese Ideen und noch viel mehr, deutet sie immer wieder an: Sei es das übertrieben ritualisierte Herum- und Heranschreiten an den Gral, die Verschworenheit der ausschließlich männlichen Gralsgesellschaft und die zwanghafte Indoktrination der jüngsten Mitglieder.

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Ian Koziara (Parsifal) und Andreas Bauer Kanabas (Gurnemanz)
© Monika Rittershaus

Diese Ansätze stellt sie visuell in einer Biedermeiergesellschaft dar, die sich für die Enthüllung in einem vornehmen Salon trifft, an deren Wand in der Mitte ein großes Loch (eine Wunde?) klafft. Diese wird zum Tabernakel des mächtigen, übergroßen Grals, der nach langer Liturgie schließlich enthüllt wird. Fassbaender zeigt die festgefahrenen Sitten dieser Gemeinschaft auf und mockiert sich zugleich über sie. Immer wieder würzt sie das allzu ernste Geschehen rund um den Gralskönig und seine Ritter mit ironisierenden Ideen. Sei es Amfortas, der zuerst den Beipackzettel des Labsals aus Arabia studiert oder das Herumreichen von Brezeln anstelle der Hostien, wie nach der Wandlung – es ist eine rätselhafte Inszenierung, die nicht zu ernst genommen werden will und alles mit einem Augenzwinkern erzählt.

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Ian Koziara (Parsifal)
© Monika Rittershaus

Es scheint, Fassbaender will alles in ihren Parsifal einfließen lassen. Die historischen Quellen, die Rezeptionsgeschichte der Oper, und all das was sie inspiriert hat. Auch die stete Ironisierung und der Theater auf dem Theater-Gedanke finden Eingang. Und trotz des Ideenreichtums stockt die Handlung, tritt oft auf der Stelle. Allzu viele Fragen werden aufgeworfen, deren Antworten die Regisseurin trotz einer sehr glaubhaften und detailreichen Personenregie leider schuldig bleibt. Der Abend zerfällt in starke Einzelszenen denen ein glaubhafter Überbau, eine schlüssige Interpretation fehlt.

Erfüllender ist hingegen die musikalische Gestaltung von Thomas Guggeis, welcher mit seinem ersten Parsifal-Dirigat sogleich die wohl aufwühlendste Wagner-Interpretation des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters seit vielen Jahren hervorbrachte. Unter Daniel Barenboim und Christian Thielemann erlernte der junge Frankfurter Generalmusikdirektor sein Wagner-Handwerk und bewies in dieser Aufführung, selbst die Fußstapfen dieser beiden Giganten auszufüllen.

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Jennifer Holloway (Kundry) und Iain MacNeil (Klingsor)
© Monika Rittershaus

Gar nicht um den Selbstzweck eines Effektes Willens, sondern intellektuell eingebettet in einen groß angelegten interpretatorischen Rahmen, ergründete Guggeis das Werk mit einer trefflichen Genauigkeit und Präzision. Er mischte die Klangfarben gekonnt und arbeitete die Umbrüche und das Abgestufte der Partitur heraus, eine Interpretation, die fesselte und zum Zuhören einlud. Zunächst eröffnete er das Werk in einem erstaunlich raschen, süffisant fließenden Konversationston, mit welchem er dem Bühnenweihfestspiel auffallend menschliche und weniger mystisch Züge verlieh – ein sich der Regie Fassbaenders fügender Interpretationsansatz.

Von Szene zu Szene drang der GMD, der Titelfigur Parsifal gleich, tiefer in die spirituelle Leidenswelt der Gralsritter hervor, dehnte dabei immer wieder die Tempi und bettete den aufwühlenden zweiten Aufzug mit sinnlichen-atmosphärischen, weniger dramatischen Stimmungen in seinen Gesamtbogen ein, bis er im dritten Aufzug die Zeit schließlich selbst anzuhalten vermochte. Im Karfreitagszauber und der Erlösungsszene entpuppte sich Guggeis als ein großer Klangmagier, welcher sein Opern- und Museumsorchester in den samtenen Klangströmen der Chöre himmlisch schwelgen ließ und so das Publikum auch musikalisch erlöste.

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Ian Koziara (Parsifal) umringt von Klingsors Zaubermädchen und Chor
© Monika Rittershaus

Andreas Bauer Kanabas hielt als vielwissender Erzähler Gurnemanz szenisch als auch stimmlich das Geschehen zusammen. Mit liedhaft-einnehmender, differenzierter und dennoch kraftstrotzender Bassstimme zog er das Publikum in seinen Bann und machte die Tiefgründigkeit des Gesungenen erfahrbar. Als erfahrener Wagnersänger und Liedinterpret scheint diese Rolle die logische Konsequenz seines Schaffens und dennoch beeindruckt die unvoreingenommene Gestaltung bei gleichzeitig stets perfekter Artikulation – sie gehört zu den wenigen Stimmen des Abends, die im Kopf bleiben und lang nachhallen. Ähnlich wuchtig und mit übermenschlicher ergreifender Größe verkörperte Nicholas Brownlee die Leidensfigur des Amfortas.

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Ian Koziara (Parsifal) und Jennifer Holloway (Kundry)
© Monika Rittershaus

Ian Koziara gestaltete die Titelpartie des Parsifal mit großer, besonders in der Tiefe ausgeprägten charakterstarken Stimme, welche sich der hellen Sopranstimme von Jennifer Holloways Kundry nicht so recht fügen wollte. Dennoch merkte man ihr an, wie sehr sie der Vielschichtigkeit der einzigen Frauenfigur im Parsifal szenisch gerecht werden wollte. Beiden mangelte es jedoch an klarer Artikulation und starkem Ausdruck, so dass sie die Tiefe ihrer Figuren nicht ergründen konnten.

Iain MacNeil, der mit rosa Rüschenhemd eher als Zirkusdirektor daherkommt, inszeniert Kundrys Verführung Parsifals mit überkitschter Detailverliebtheit eines Märchenkönigs und glänze mit samtener, schönklingender, aber wenig bedrohlicher Baritonstimme.

Jennifer Holloway (Kundry), Ian Koziara (Parsifal) und Nicholas Brownlee (Amfortas) © Monika Rittershaus
Jennifer Holloway (Kundry), Ian Koziara (Parsifal) und Nicholas Brownlee (Amfortas)
© Monika Rittershaus

Nach der Erlösung des Erlösers scheinen alle erleichtert – Parsifal übernimmt das Amt des Gralshüters und Amfortas brennt mit Kundry durch. War doch alles nur ein Spiel? Fassbaender entlässt die Gralsritter aus ihren Kostümen, sie wischen sich die Schminke aus dem Gesicht, und alle haben sich ein Glas Sekt verdient. Man ist geradezu erleichtert, dass sie es wohl auch nicht allzu ernst gemeint hat. „Weißt du, was du sahst?“, fragt nicht nur Gurnemanz sondern auch so mancher Zuschauer, der ahnungslos den Saal verlässt.

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