Der Hype um den Pianisten war in der vergangenen Saison ausgebrochen. Damals war er mit Bachs Goldberg-Variationen um die Welt getourt und spielte sie – analog zur Anzahl Tasten auf dem modernen Flügel – in 88 Konzertsälen. Im April 2024 machte er auch in der Tonhalle Zürich Halt und verblüffte das Publikum mit einer völlig subjektiven, aber faszinierenden Interpretation des Meisterwerks. Nun ist Víkingur Ólafsson erneut nach Zürich eingeladen worden. Diesmal aber nicht für einen Soloabend, sondern als Solist in Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur, begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi. Und auch diesmal war die Begeisterung des Publikums wieder groß.

Ein Solorezital folgt anderen Gesetzen als ein symphonisches Konzert. Der künstlerischen Subjektivität des Einzelnen sind durch das Kollektiv des Orchesters Grenzen gesetzt. Dass Ólafsson alles anders machen will als die Kollegen, funktioniert im symphonischen Zusammenhang nicht in gleicher Weise. Und so konnte er den sensationellen musikalischen Erfolg vom letzten Frühjahr nicht mehr wiederholen.
Eines der Merkmale seines Spiels sind häufige Tempo- und Ausdrucksschwankungen. Gleich zu Beginn des ersten Satzes gibt er eine Kostprobe davon: Während das Orchester in weit auseinanderliegenden Akkorden eine Kadenz in der Grundtonart markiert, wählt der Solist in den dazwischenliegenden Figurationen anfangs ein schnelles und straffes Tempo, um dann nach dem dritten Orchesterakkord plötzlich in einen lyrischen Tonfall zu wechseln. Damit scheint er sagen zu wollen: Pathos will ich euch nicht bringen, und im Übrigen müsst ihr stets mit Überraschungen rechnen. Im Folgenden wird dieser Ansatz verdeutlicht. Ólafsson wechselt zwischen straff durchgezogenen und elastischen Abschnitten. Bildlich gesprochen: auf der Autobahn fährt er in konstant schnellem Tempo, auf den kurvenreichen Landstraßen bremst er ab, um danach wieder Gas zu geben. Järvi und das Tonhalle-Orchester sind Profi genug, um das alles mitzumachen und recht gut zu synchronisieren. Aber auf der Ebene der Komposition droht die Einheit des Satzes auseinanderzubrechen.
Eindrucksvoll gelingt der langsame Mittelsatz, wo sich die con sordino gespielten Streicherklänge und der Melodienzauber des Soloklaviers in wunderbarer Art ergänzen. Im dritten Satz demonstriert der Pianist genau das Gegenteil dessen, was er im ersten vorgeführt hat. Das Rondo zieht er in geradezu metronomischem Tempo und kantigen Rhythmen durch, lässt alle Versuchungen zum lyrischen Verweilen aus und peitscht den Satz bis zum Ende durch. Das Orchester kann das natürlich auch.
Der Hype um Ólafsson, das erlebt man auch in Zürich, bezieht sich nicht nur auf seine eigenwilligen Interpretationen, sondern auch auf seine Persönlichkeit. Er repräsentiert einen Künstlertyp, der kein Star sein will und durch eine geschickte Vermarktung dennoch als solcher rezipiert wird. In seinem braven Anzug mit der orangen Krawatte, seiner schwarzen Brille und dem strengen Haarscheitel sieht der 41 Jahre alte Isländer aus wie ein Diplomand. Wenn er zum Applaus über das Dirigentenpodium hüpft, benimmt er sich wie ein Junge. Dann beschwichtigt er das tobende Publikum und erklärt, dass Beethoven bereits taub gewesen sei, als er das Fünfte Klavierkonzert schrieb. Setzt sich und spielt das Ave Maria aus seinem (bei der Deutschen Grammophon herausgekommenen) Album From Afar, eine Transkription eines Stücks des isländischen Komponisten Sigvaldi Kaldalóns.
Das Rahmenprogramm des Tonhalle-Orchesters rückt in diesem Zusammenhang in den Hintergrund. Dabei bietet die Kombination von Arvo Pärts Komposition Für Lennart in memoriam mit Witold Lutosławskis Konzert für Orchester eine interessante Gegenüberstellung. Este gegen Polen, Streichermusik gegen üppigen Orchesterklang, Trauergestus gegen folkloristisches Idiom. Entsprechend unterschiedlich gerät die Interpretation. In Pärts Stück zelebrieren die Streicher einen wunderbar homogenen Klang. Und Lutosławskis Konzert verwandelt sich unter Järvis Stabführung zu einem effektvollen Showpiece, bei der Volksliedmelodien, nächtlicher Spuk und Choral eine (nicht nur) friedliche Koexistenz führen.