Venus oder Elisabeth, die Göttin der Liebe oder die Jungfrau? Das ist die existentielle Frage, die sich Tannhäuser stellt und die er bis zum Schluss nicht beantworten kann. Es ist für den Minnesänger auch die Frage, wer er eigentlich ist, in welcher Welt und in welcher Gesellschaft er leben möchte. Gerade diese zweite Frage stellt sich der Regisseurin Lydia Steier mit aller Dringlichkeit. Bei der Neuproduktion von Richard Wagners Tannhäuser an der Wiener Staatsoper bildet sie geradezu den Angelpunkt ihrer Inszenierung.
Im ersten Akt führt sie die Welt der Venus als ein verlockendes Reich der Sinnlichkeit vor, das die tollsten Männerfantasien beflügelt. Im zweiten Akt zeigt sie eine in strengen Regeln gefangene Wartburg-Gesellschaft, die nur für den erstrebenswert erscheinen kann, der sich ihr anpasst. Die Venus-Welt, so scheint die Regisseurin sagen zu wollen, wäre für den Titelhelden die bessere Wahl. Umso erstaunlicher dann, welche Lösung Steier zum Schluss der Oper präsentiert.
Kräftige Schützenhilfe bei ihrer Darstellung der beiden gegensätzlichen Welten erhält die Regisseurin durch die Bühnen- und Videogestaltung von Momme Hinrichs und die Kostüme von Alfred Mayerhofer. Der Venusberg präsentiert sich als ein mit zahlreichen Galerien und Balkonen ausgestatteter Raum, in dem sich eine Vielzahl von Damen und Herren in leichter Glitzerkleidung räkeln. Venus, mit Federbusch, Netzstrümpfen und -handschuhen ausgestattet, erscheint von der Decke herab in einer Mondsichel. Dass Tannhäuser sich ihrer Umgarnung entzieht, scheint mit der Überfülle an sinnlichen Reizen zusammenzuhängen.

Auf der Wartburg ist er dann mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Das klotzige Interieur erinnert an Bauten aus der NS-Zeit. Der Landgraf erscheint nicht als treu besorgter Vater, sondern als durchtriebener Strippenzieher. Er inszeniert den Sängerwettstreit als Bühnenaufführung und will sie so steuern, dass Tannhäuser den Preis, sprich die Hand seiner Tochter Elisabeth, erhält. Seine Kumpanen vertauschen dazu ihre Anzüge mit historischen Minnesängergewändern, was nicht ohne ironische Brechung abgeht.
Die mit den berühmten Fanfaren angekündigten Gäste repräsentieren eine durchaus heutige Upperclass. Ihr Empfang durch den Landgrafen und Elisabeth erinnert den Social-Media-erprobten Zuschauer verdächtig an ähnliche Anlässe etwa mit dem spanischen König Felippe und Kronprinzessin Leonor. Und auch die Seitenhiebe auf das anwesende Publikum sind nicht zu übersehen, wenn man dann in der Pause die Champagner trinkende und Lachsbrötchen verspeisende reale Wiener High Society beobachtet.
Sängerisch hat Tannhäuser die Wahl zwischen der Elisabeth von Malin Byström und der Venus von Ekaterina Gubanova. Die schwedische Sopranistin, die in Wien schon als Salome und als Elsa gefeiert wurde, stellt Elisabeth mit Powerstimme und einem offenen, empathischen Charakter dar. Und als selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will. Die russische Mezzosopranistin, die am Haus unter anderem als Kundry aufgetreten ist, gibt auch hier die Femme fatale, zieht stimmlich alle Register und bleibt trotzdem ein rätselhaftes Wesen.
Und Tannhäuser? Der Heldentenor Clay Hilley ist unbestritten der Star dieser Neuproduktion. Dass der Amerikaner, der auf allen großen Bühnen zu Hause ist, an der Staatsoper sein Debüt gibt, kann man fast nicht glauben. Seine Stimme strahlt auch im kräftigsten Forte so unangestrengt, dass man denkt, er hätte noch Reserven gegen oben. Charakterlich zeigt Hilley seine Zerrissenheit sehr offenkundig, und schauspielerisch bewegt er sich auf der Bühne wie ein Profi des Sprechtheaters. Sein Kontrahent und Nebenbuhler betreffend Elisabeth hat da einen schweren Stand. Der Bariton Martin Gantner, der mit seiner Rundbrille nicht zufällig an den erfolglosen Frauenverehrer Schubert erinnert, bringt den in Konventionen verhafteten platonischen Liebhaber punktgenau zur Geltung. Und Günther Groissböck gewinnt dem Landgrafen Hermann einen erfrischend neuartigen Charakter ab.
Philippe Jordan, der scheidende Musikdirektor des Hauses am Ring, hat sich für die Wiener Fassung des Tannhäuser aus dem Jahr 1875 entschieden. Hier hat Wagner im Unterschied zur originalen Dresdner Fassung die Venus-Musik des ersten Akts ausgebaut und quasi erotischer instrumentiert. Der dadurch akzentuierte Gegensatz zwischen der Venus- und der Wartburg-Welt bildet denn auch den interpretatorischen Ansatz von Jordans Deutung. Schon in der Ouvertüre lässt er das Orchester der Wiener Staatsoper den frommen Pilgermarsch und die flirrend-sinnliche Venus-Musik in scharfem Kontrast voneinander abgrenzen. An den Kulminationspunkten der Handlung bindet er das Orchester immer wieder wirkungsvoll in das vokale Geschehen ein. Frappierend etwa im zweiten Akt der klangliche Aufruhr, den das leibhaftige Erscheinen der Venus nach Tannhäusers frevlerischem Preislied auf die Liebe auslöst.
Nach den szenisch wirbligen Aufzügen eins und zwei fällt im Schlussakt die Spannungskurve deutlich ab und die Bildersprache bleibt teilweise rätselhaft. Was die teilnahmslos an ihren elektronischen Geräten herumdrückenden Minnesänger bedeuten, wird nur verständlich, wenn man die einschlägige Erklärung der Regisseurin im Programmbuch nachliest. Den Schluss erzählt Steier dann recht konventionell. Die Lösung, die sie anbietet, hat gar nichts Feministisches an sich. Nachdem Tannhäuser, der in Rom keine Vergebung gefunden hat, zwischen alle Stühle und Bänke gefallen und am Boden zerstört ist, tritt die zum Engel mutierte Elisabeth aus der Burg und richtet ihn auf. Es ist, ganz im Sinne Wagners, die Erlösung des Mannes durch eine liebende Frau.