Die Brockes-Passion, benannt nach ihrem Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes, erfreut sich seit einigen Jahren wieder größerer Beliebtheit. In aller Munde war sie zu dessen Lebzeiten, nachdem Reinhard Keiser, Opernchef in der Hansestadt, sein strippenziehender Kollege Mattheson, ihr dortiger späterer Nachfolger Telemann, zeitweise mit in Diensten stehender Händel und ebenfalls allen bekannter Fasch sowie Stölzel die bedeutendsten Vertonungen der Vorlage „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ herausbrachten. Auch Johann Sebastian Bach diente sie als Vorbild für seine Passionen, versuchte er sich an einem Arrangement Händels Version von 1716, vermischt mit eben Keisers. Händels Ausgabe ist heute – besonders durch dessen generelles Standing in der Musiklandschaft sowie mehrere Produktionen – die Verbreiteste, dabei ist die Quellenlage immer noch erforschungsbedürftig. Denn die unterschiedlichen Werke aller Meister waren derartige Schlager, dass man dazu überging, oft ein Pasticcio mit einzelnen zusammengemengten Sätzen des vorhandenen Materials aufzuführen. Keisers aus eigener Feder erhaltenes Oratorium geht dabei manchmal ein wenig unter, nicht aber so bei der Nederlandse Bachvereniging, die die Saison der Ostermusiken mit diesem bei der für ihr seltenes Repertoire berüchtigten NTR Zaterdagmatinee eröffnete.

Brockes ging mit der Zeit und schneiderte 1712 eine Evangeliennachdichtung für Keiser, als Hamburg sowohl das Mekka der Oper als auch jenes der Kirchenmusik bildete. Selbst wenn sie ihm manchmal den Vorwurf der Alltäglichkeit eintrugen, schafften die Vermenschlichung Christi, die thrillerartige Schilderung dessen letzten Stunden sowie die persönliche Auseinandersetzung der Charaktere des zentralen Jesus, der allegorischen Figuren der Tochter Zion und Gläubigen Seele, des Petrus und Judas doch eine zugänglichere, verständlichere Grundlage, die auch heute noch funktioniert. Zudem kommt mit diesem blutrünstig-lyrischen Libretto, das geforderte Ehrfurcht und Reflexion gleichermaßen transportiert, Maria hinzu, um in einen knappen Dialog mit dem Sohn am Kreuze zu treten. Körperliches Angefasstsein demnach garantiert. Durch den belegten Erfolg insgesamt also eine runde Sache, die rein optisch Shunske Sato inspiriert haben muss, eine ovale Aufstellung über die Fläche des Concertgebouw-Podiums zu wählen, in dessen Mitte er als nun mal tatsächlich fungierender Mittler mit oder ohne Barockgeige zwischen Orchester und Chor stand. Felix Schwandtke als wirkmächtiger, theatralischer, mit deklamationsstarkem, weichem Bass ausgestatteter Gemarterter befand sich passend dazu in der Zentrumsposition der Gesangssolisten auf der ersten Erhöhung, die Chorstimmen dahinter. Neben ihm Eric Stokloßa, dem als Evangelist in dem operal gesetzten Stück nicht die sonst erwartete Hauptrolle zugedacht ist, sondern die des Erzählers der groben Stränge der Handlung. Die füllte der Tenor mit diktionsklarer, teils berührender Rhetorik, die die lautmalerischen Effekte wunderbar miteinbezog.

Den gesanglich größten Anteil an Arien oder Soliloquien in dem knapp einhundert Nummern zählenden Werk weist nämlich die Tochter Zion auf, darunter den mit fünf Minuten mit Abstand längsten Einsatz in „Heil der Welt“, in der die Solovioline Satos und Traversflöte Marten Roots den Sopran Rachel Redmond begleiteten, die in stupend hingebungsvollem, organischem Fluss ihrem dauernd anrührenden, phrasierungs-stilistisch prägenden Schmerz Ausdruck verlieh. Dies tat sie, bevor mit Viola Blache eine zärtliche, leidbeschwerte Maria in Erscheinung trat, die wiederum zuvor in den unterschiedlich ausgefüllten Rollen der Gläubigen Seele ihre mit unschuldshaft reiner, anmutiger Leuchtkraft besungene und ausstrahlende Tröstlichkeitkeit in dunklen Stunden in das Drama einfügte. Nicht immer sollte sich die doppelte Aufgabenstellung Satos darin bezahlt machen, als rhythmische Schwierigkeiten die temperamentreichen Turba-Chöre kennzeichneten, die Instrumentalisten und Sängerschar der Kriegsknechte, Jüden und Jünger in dem starken Kontrast zu kontemplativ-breiteren Chorälen der christlichen Kirche scheinbar überraschten, den Sato allerdings nutzte, um seinerseits das Bildhafte und Lebendige zu untermalen. Das gelang, indem die Nederlandse Bachvereniging zusätzlich zu den Tempounterschieden mit textfundierter Klasse dynamische und spielerische Abwechslung anschlug: kämpferische Wut mit aufgekratzten Streichern und Mike Fentross' Theorbe, Verzweiflung mit ponticello-Kälte oder Einsamkeit und Tiefe mit intimem Continuo respektive drei Fagotten oder zwei Blockflöten und Oboen. Keiser nahe Keizersgracht, wie er gerne weiter dem Komponisten gerecht werden darf.


Die Vorstellung wurde vom Livestream der NTR Zaterdagmatinee rezensiert.

****1