Wohl mancher Dirigent hätte schon genug mit der Leitung der Met zu tun. Yannick Nézet-Séguin hat obendrein noch Chefposten in Montreal und Philadelphia, ist Rotterdam eng verbunden und hat in Baden-Baden ein eigenes Festival. Gerade fünfzig geworden sprüht er vor Vitalität. Die Sommerfestspiele in Baden-Baden kuratiert er nun im dritten Jahr. Damit knüpft die Kurstadt an ihre große Musiktradition zur Mitte des 19. Jahrhunderts an, als der französische Schriftsteller Eugène Guinot ihr den Titel Capitale d'Été verlieh – Sommerhauptstadt der Musik, gegenüber der Musikmetropole im Winter: Paris.

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Yannick Nézet-Séguin und Ying Fang
© Michael Gregonowits

Neun Tage lang beherrschte der kanadische Dirigent in diesem Jahr die Musikszene der Stadt – mit gesellschaftlichen Aktivitäten, als Dirigent von vier Symphoniekonzerten und wie in jedem Jahr auch als Kammermusiker: Yannick and Friends, indem der Maestro wieder selbst den Klavierpart übernahm. Diesmal war es vornehmlich ein Liedprogramm (Mozart und Schumann), das mit Robert Schumanns Klavierquartett abschloss. Ein speziell für dieses Festival gestaltetes Programm mit Musikerinnen und Musikern, die auch im Chamber Orchestra of Europe in den großen Konzerten mitwirkten. Ein Konzept abseits jeder Routine, zugeschnitten speziell auf dieses Festival.

Von Liebesfreud und Liebesleid handeln die Lieder, die mit Bedacht einander gegenüber gestellt waren. Mit Mozart war eher die heitere Seite vertreten, mit Schumanns Dichterliebe die leidvolle. Leider nur drei Mozart-Kompositionen steuerte die Sopranistin Ying Fang bei, denn dieser jungen Stimme hätte man viel länger zuhören mögen. Mit strahlender Höhe, in wunderbarer Phrasierung und reiner Artikulation erfüllte die Sängerin genau, was Mozart sich z.B. für die Ariette Un nmoto di gioia gewünscht hatte: Sie möge naiv, d.h. natürlich gesungen werden. Solch eine ideale Mozartstimme hatte sich hier vorgestellt!

Yannick Nézet-Séguin und Michael Volle © Michael Gregonowits
Yannick Nézet-Séguin und Michael Volle
© Michael Gregonowits

Stanislas de Barbeyrac hat bereits in großen lyrisch-dramatischen Rollen (Siegmund, Florestan, Don José) reüssiert, hier trat er mit Schumanns Dichterliebe an. Obgleich technisch eindrucksvoll mit wunderbarem Piano, schönem Legato und auch makelloser deutscher Diktion konnte aber seine Interpretation dennoch kaum überzeugen. Er schien das Konzertpodium mit der Opernbühne verwechselt zu haben. Die Miniaturen der subtilen Lyrik in Heines Gedichten lud er derart mit Dramatik auf, dass etwa Ich hab im Traum geweinet regelrecht zu einem romatischen Schauerstück geriet. Auch von Heines (Selbst-)Ironie war in seinem Vortrag nichts mehr übrig geblieben. Aber Nézet-Séguin glich am Klavier durch feine Zurücknahme der musikalischen Motive in das innere Erleben aus, was der Sänger an plakativer Extrovertiertheit überbetonte.

Wesentlich mehr Understatement ließ Michael Volle bei den folgenden Vokalkompositionen Mozarts walten. Alle waren kaum bekannt, also an diesem Abend eine willkommene Entdeckung, denn Volle gelang es eindrucksvoll, deren textlichen Gehalt auszudeuten. Allein wegen Mozarts Vertonung sind wohl die 18 Strophen der klappernden Verse von Klamer Eberhard Karl Schmidt im Lied der Trennung der Nachwelt überliefert. Aber Michael Volle machte aus dieser Klage eines von seiner Geliebten Luisa Verlassenen mit ein wenig Augenzwinkern eine lebendige Erzählung. Pure Ironie schien in Die betrogene Welt auf einen Text von Christian Felix Weiße durch: „Die Welt will ja betrogen sein, drum werde sie betrogen!” Auch das Verkündigungspathos der Kantate des Freimaurer-Dichters Franz Heinrich Ziegenhagen von der allgemeinen Menschenliebe (Mozarts KV 619) wurde von Volle passend getroffen.

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Yannick Nézet-Séguin mit Solist*innen des Chamber Orchestra of Europe
© Michael Gregonowits

Im abschließenden Klavierquartett Es-Dur von Schumann zeigte Yannick Nézet-Séguin nochmals seine enormen Qualitäten als Kammermusiker. Es war ein Musizieren auf Augenhöhe – Kammermusik wie sie sein soll, als fein austariertes Geflecht gleichberechtigter Stimmen. Maria Włoszczowska ziselierte den Geigenpart feinfühlig aus, an der Viola bewies Piotr Szumiel starke Präsenz und klangschön differenzierte Richard Lester die Kantilenen im Cello aus. Dabei strahlte das Spiel des Quartetts in vitaler Musizierlust. Gefühle der Freude, vermittelt durch die Musik!

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