Andere Kinder schreiben mit sechs Jahren krakelig ihren eigenen Namen, der kleine Richard Strauss bereits sein erstes Lied; sein letztes entstand knappe 80 Jahre später, einige Monate vor seinem Tod. Mehr als zwei Drittel seiner Lieder lassen sich allerdings auf die Jahre 1894 bis 1901 datieren. Strauss komponierte sie für seine Frau Pauline, eine international erfolgreiche Sopranistin, mit der er in dieser Zeit häufig gemeinsam auftrat. Aber wie komponiert man eigentlich im Laufe eines Lebens zusätzlich zu Orchesterwerken und Opern über 200 Lieder? Nun, laut Strauss ist das Rezept ganz simpel: „Ich nehme ein Gedichtbuch zur Hand, blättere es oberflächlich durch (...). Offenbar hatte sich da innerlich Musik angesammelt und zwar Musik ganz bestimmten Inhaltes – treffe ich nun da (...) auf ein dem Inhalt correspondierendes Gedicht, so ist das opus im Handumdrehen da.“ Die meisten seiner Lieder waren nicht nur im Handumdrehen da, sondern sind immer noch fixe Säulen des klassischen Repertoires. Umso schwerer ist es nun, nur zehn herauszupicken.
1Im Abendrot (Eichendorff)
Es mutet doch ein bisschen kitschig an: Ein Komponist beendet sein Schaffen mit einem Liederzyklus, in dem er einen musikalischen und textlichen Bogen vom Lebensbeginn bis hin zum Lebensabend spannt. Dieser Mythos hat allerdings gleich mehrere Haken. Die Lieder waren von Strauss selbst weder als abgeschlossener Zyklus betrachtet worden noch als letzte Werke intendiert gewesen, den Titel Vier letzte Lieder wählte überhaupt erst sein Verleger Ernst Roth. Historische Fakten beiseite, der Tod hat wohl nie schöner geklungen als in Strauss Vertonung von Joseph von Eichendorffs Gedicht Im Abendrot – begleitet von berückenden Orchesterklängen, in denen der Komponist auch seine sinfonische Dichtung Tod und Verklärung zitiert, begeben sich die Seelen nach einem langen Lebensweg in das metaphorische Abendrot und entschweben schließlich in Form der Piccolo-Flöte während die Musik selbst sanft erlischt.
2Morgen (Mackay)
Den eigenen Hochzeitstag vergessen, kein Geschenk parat und die Geschäfte sind geschlossen? Für einen Komponisten kein Problem: einfach vier Lieder komponieren und mit einer liebevollen Widmung versehen! „Meiner geliebten Pauline zum 10. September 1894 als Morgengabe” schrieb Richard Strauss unter die vier Lieder – Cäcilie; Ruhe, meine Seele; Morgen; Heimliche Aufforderung – die allesamt von einem Gefühl der Glückseligkeit getragen sind. Die Klavierstimme in Morgen besticht mit ihren Arpeggien, die die Harfe der orchestrierten Fassung vorwegnehmen, und schwelgt träumerisch in gebrochenen Akkorden. Das „stumme Schweigen“, das im Gedicht vorkommt, dürfte Strauss vor eine kompositorische Herausforderung gestellt haben, denn er wollte Schweigen vertonen, ohne die Musik verstummen zu lassen. Die letzten beiden Verse sind daher stark reduziert, die Arpeggien entfallen und die Gesangsstimme hält bei „Stumm werden wir uns in die Augen schauen“ inne.
3Allerseelen (Gilm)
Eines der schönsten, aber auch komplex zu deutenden, Lieder von Strauss ist zweifelsohne Allerseelen. Tot oder lebendig ist die zentrale Frage, die sich stellt. Bereits die ersten Verse „Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, Die letzten roten Astern trag herbei“ geben allerdings einen Hinweis, denn sowohl Reseden als auch Astern sind traditionell Pflanzen, die Gräber schmücken und Symbole der Erinnerung sind. In der römisch-katholischen Lehre wird zu Allerseelen den Verstorbenen gedacht, deren Seelen an diesem Tag – „ein Tag ist ja den Toten frei“ – aufsteigen können. In Anbetracht der Tatsache, dass Richard Strauss katholisch sozialisiert wurde, liegt die Vermutung nahe, dass er das Gedicht auch vor diesem Hintergrund interpretierte und vertonte. Wie eine innige Rückschau erklingt nämlich die Klavierstimme in tröstendem Dur, die Gesangslinie scheint dabei vom Klavier begonnene Gedanken zu vollenden und stets überwiegt die Schönheit der Erinnerung über deren Schmerz.
4Meinem Kinde (Falke)
Sanft und anmutig umschweben Klavier und Stimme ein schlafendes Kind, hypnotisch wiederholt sich das Hauptthema des Liedes, das gerade in dieser Schlichtheit wunderschön ist. Das Motiv des Elternteils, der sich über das schlafende Kind beugt und es bewundert beschäftigte Strauss bereits während der Schwangerschaft seiner Frau, sodass Gustav Falkes Zeilen „Du schläfst und sachte neig ich mich über dein Bettchen“ wohl vorweggegriffen haben, wie stolz der Komponist später seinen Sohn Franz beim Schlafen beobachtete. Strauss verfolgte bei der Zusammenstellung seiner Lieder übrigens meist keine konsequente Zyklenform, so ist auch Meinem Kinde eines von sechs Liedern, die zwar gemeinsam veröffentlicht wurden, aber nicht durch einen inhaltlichen oder thematischen Rahmen verbunden sind. In der Aufführungspraxis hat es das Ehepaar Strauss jedoch gemeinsam mit dem Wiegenlied und Muttertändelei zu den sogenannten Mutterliedern, die später auch von Richard Strauss selbst orchestriert wurden, zusammengefasst.