Wie weit können Instrumente Sprache imitieren? Es ist eine Frage, die sich in manchen von Steve Reichs Werken stellt, und er trifft die Sprachmelodie seiner Interviewpartner erstaunlich genau, verwebt Buchstaben, Noten, Laute und Gesang in einen engmaschigen Text. In der Video-Oper The Cave werden Interviews und jüdische, christliche und muslimische Auszüge des Heiligen Wortes zum Ausgangsmaterial, das selbst nach zwanzig Jahren noch den Nerv der Zeit trifft. Eine neue Inszenierung: Nicht nötig (das Video-Material besteht bereits), Musik: anspruchsvoll (für die Musiker und vor allem für den Dirigenten), Saal: weitestgehend ausverkauft.

Steve Reich hat schon in den 60er Jahren den „phase effect“ oder das sogenannte Phasing für sich entdeckt und als Stilmittel zu seinem Markenzeichen entwickelt: Zwei gleiche Tonfolgen werden in unterschiedlichem Tempo wiederholt; dabei verschieben sie sich in einander, es ergeben sich serielle Folgen. Sie entstehen aus den gleichen Mitteln, unterscheiden sich aber doch. Das nutzte Reich auch für The Cave. Phrasen werden gesprochen – Sprache ist das Thema, mit dem Reich in diesem Stück arbeitet; die Musiker wiederholen das Gesprochene mit ihren Instrumenten und alles verschiebt sich ineinander. Es war ein reichhaltiger Abend, und nicht nur aus dem Grund, weil das Kompositionsverfahren kanonisch für neue Musik wurde.

Reich widmet die Interviews Juden, Moslems und Christen. Sie alle berufen sich auf Abraham als den Urvater der Religionen; in der Video-Oper vereinnahmen sie ihn sogar für sich. Zuerst beantworten jüdische Menschen fünf Fragen, beginnend mit „Wer ist für dich Abraham?“. Ihren Antwort folgen die von Palästinensern und als letzte, nach der Pause, dürfen Amerikaner zu diesen Fragen Stellung beziehen. Sie tun es deutlich anders. Abraham? Abraham Lincoln! Diese Ordnung gibt eine feste Ausgangslage für diesen letzten der drei Akte.

Aufgebrochen wird die Struktur durch Texte aus den Heiligen Schriften. Suren, Genesis, Torah und auch das Interview-Material wurde von der Video-Künstlerin Beryl Korot bearbeitet, und nicht zufällig fügen sich manche Hintergründe auf den schwebenden Bildschirmen über den Musikern in ornamentale Raster. Immer dann, wenn Film und Sound der Videos plötzlich „hängen“ bleiben oder wiederholt werden, verwebt sich die Musik auf ähnliche Art und Weise mit dem Bild- und Tonmaterial; es entstehen schillernde Collagen von Sound- und Bildfetzen. Das Ensemble Synergy Vocals (Sopran: Joanna L’Estrange, Mezzo: Micaela Haslam, Tenor: Alastair Putt, Bariton: Tom Bullard) verlieh den Heiligen Schriften, aus denen es Wort- und Satzkonstrukte wiederholte, einen eher erzählerischen Duktus und brachte damit Geschwindigkeit und Abwechslung ein. Sopran und Mezzosopran waren hell und klar verständlich wie auch der Tenor. Nur der Bariton war in der Artikulation anfangs nicht ganz so verständlich, was sich allerdings nach wenigen Silben richtete.

Höchste Aufmerksamkeit galt dem Dirigenten Brad Lubman, der die Vielzahl an Stimmen koordinierte, manche synchron halten und sie dann in differenzierende Tempi verschieben musste. Ihm oblag es, Stimmen im Abgleich mit den Videosequenzen in ein Erlebnis fließen lassen. Sein Dirigat war der Webstuhl, der alles zusammenführt. Dabei behielt er in jedem Moment die Oberhand und so komplex die Muster auch wurden, zu einem Durcheinander wurden sie nie. Auch die Musiker des Ensemble Modern meisterten die Herausforderungen, die Reich an die Instrumentalisten stellt – von Schreibmaschinen-Percussion bis zu gesampelten Streichermelodien – souverän, mit elektrifizierender Wirkung und ausgeprägtem Gespür für die beständig variierenden Tempi. Wenn auch nur einer den Kettfaden quer schießt, hätte der gewebte Stoff an Qualität verloren. Die Musiker und das Dirigat fanden jedoch immer zum Ausgangspunkt zurück, von dem sich alles aufbaut.

Mit wenigen Mitteln viel erreichen: Steve Reich war ein Wegbereiter für minimalistische Musik. Damit spricht auch The Cave ein modernes Publikum an, das nicht unbedingt in Abendgarderobe in die Oper gehen will. Jeder, der mit elektronischen Klängen liebäugelt, sollte einen Ihrer Ursprünge kennen lernen (wollen). Wo für manch einen klassischen Opernliebhaber dieses moderne, multimediale Oratorium womöglich ein Graus sein mag, war es eine Freude, die Ränge des Bockenheimer Depots gefüllt zu sehen. Und selbst derjenige, den die elektronische Avantgarde-Musik nicht für sich gewinnen vermag, der kann noch immer den Diskurs um den Erzvater Abraham verfolgen. Eindrucksvoll kann der erste Interviewpartner seine Genealogie von Abraham bis zu seiner heutigen Familie nachverfolgen. Wie traditionsbewusst ist man da eigentlich selbst, fragt man sich. Abraham? Abraham Lincoln!

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