Wie kaum ein zweiter Liederzyklus verkörpert Schuberts Winterreise den Geist der deutschen Romantik mit seiner Naturverbundenheit, der melancholischen Insichgekehrtheit seines Protagonisten, aber auch durch seine unausweichliche, fatale und bis zum Schluss romantisch verklärte Tragik. Für Franz Schubert, der den Zyklus ein Jahr vor seinem Tod nach Texten des Dichters Wilhelm Müller komponierte, stellte die Winterreise einen Abschluss dar. Die Federstriche an diesen Liedern sollten zu seinen letzten gehören.

Andrè Schuen © Christoph Köstlin
Andrè Schuen
© Christoph Köstlin

Seitdem wurde das Werk vielfach interpretiert und aufgenommen und so muss jeder Interpret und jede Interpretin sich unweigerlich mit zahllosen Vorgängerinterpretationen messen. Die neueste Einspielung stammt von Andrè Schuen und Daniel Heide, die nach der Schönen Müllerin und dem Schwanengesang nun mit dem großen Klassik-Label Deutsche Grammophon die Winterreise, den dritten der großen Schubert-Zyklen, eingespielt haben.

Für den international erfolgreichen Sänger Andrè Schuen hat dieser Liederzyklus einen ganz besonderen Stellenwert. „Die Winterreise ist vielleicht sogar der Hauptgrund, warum ich zum klassischen Gesang gekommen bin”, verrät der gebürtige Südtiroler, „es war wahrscheinlich mein erster Liederabend.” Aufgewachsen in einer überaus musikalischen Familie begann die Beschäftigung mit Schubert bereits sehr früh: „Meine ersten Berührungspunkte hatte ich mit den Schubert-Alben, wo Die schöne Müllerin, Winterreise und Schwanengesang enthalten sind, und da habe ich selbst am Klavier in der Nacht so ein bisschen ausprobiert und geschaut, wie sich das anfühlt.”

Es muss sich gut angefühlt haben, denn heute gehört er zu einem der gefragtesten Liedinterpreten weltweit und nachdem er nun alle drei Zyklen aufgenommen und diese unzählige Male vor Publikum gesungen hat, misst er der Winterreise immer noch eine besondere Bedeutung zu. „Die Winterreise ist das Werk, das mich von Anfang an begleitet hat und mich wahrscheinlich auch bis zum Schluss begleiten wird”.

Trotz seines breit gefächerten Repertoires, das von Oper über den Liedgesang bis hin zu Oratorien, von Händel bis Strawinsky, Mozart bis Wagner, reicht, macht das Lied einen Großteil seiner Arbeit aus. „Vor allem künstlerisch ist es einfach für mich sehr wichtig, weil ich merke, dass ich mir beim Lied ganz anders alles selbst erarbeiten muss.” So schätzt er beim Genre Lied sowohl die künstlerischen Freiheiten und die selbstständige Erarbeitung eines Werks fernab großer Regieteams und künstlerischer Vorgaben von außen: „Da gibt es niemanden, der sagt, das musst du so machen oder mach das so. Beim Lied machen wir das wirklich selbstständig und ich denke, das erzieht auch zur Eigenverantwortung.”

An seiner Seite hat er keinen geringeren als Daniel Heide, der neben seinen Soloprogrammen, diversen Aufnahmen und seinem Lyrischen Salon auf Schloss Ettersburg zu einem Begleiter zahlreicher renommierter Künstler und Künstlerinnen geworden ist. Er lernte den Bariton bei den Meisterkursen der Internationalen Sommerakademie in Salzburg kennen und von Schuens Gesang inspiriert, entwickelte sich nach der ersten Kontaktaufnahme eine immer engere und ertragreichere Zusammenarbeit.

Loading image...
Daniel Heide
© Guido Werner

Heide beschreibt die viele Jahre andauernde künstlerische Zusammenarbeit mit Schuen als eine besondere; sie haben „viele Jungfernfahrten mit ihrem Repertoire gemacht” und durch die enge und häufige Kollaboration „kommt es immer mehr zu einem schöneren und einem freieren Musizieren”, so weit, dass Heide sich von Schuens Gesang „aufs Höchste inspiriert” fühlt. Er schwärmt von seiner „wandlungsfähigen Stimme” mit einem „strahlenden Fortissimo”, die ihm als Pianist besondere Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Beide profitieren von den Talenten des anderen und „vieles passiert einfach im Musizieren und im gegenseitigen Respekt und in großer Wertschätzung und Unterstützung.”

Die Frage, ob seine Erfahrung auf der Opernbühne in seinen Liedgesang Eingang findet, bejaht Schuen: „Von der Oper kann man natürlich sehr viel ins Lied mitnehmen, was die gewisse Theatralik betrifft oder den Sinn für Dramatik und Dramaturgie innerhalb eines Stückes. Ich denke, das ist schon ein großer Vorteil. Ich bin zum Beispiel nicht der Meinung, dass die Winterreise nur eine Zusammensetzung von Bildern ist, sondern als Sänger mache ich es mir durchaus zur Aufgabe, auf der Bühne auch eine gewisse Dramaturgie zu erzeugen.”

Auch die Auseinandersetzung mit der Winterreise über viele Jahren lassen Schuen die jeweiligen Vorteile einer jungen oder auch einer gereiften Stimme für die Schubertschen Liederzyklen erfahren. „Manche finden es immer noch sehr früh, wenn man die Winterreise jetzt schon aufnimmt. Ich finde das ehrlich gesagt nicht ganz nachvollziehbar, vor allem wenn man bedenkt, dass sowohl Schubert als auch Müller unglaublich jung gestorben sind und das im noch viel jüngeren Alter als ich es jetzt bin, komponiert und geschrieben haben.”

Sehr offen reflektiert er über die Entwicklung seiner Stimme im Laufe seiner bisherigen Karriere: „So wie sich die Stimme entwickelt hat, hat sich vielleicht auch die Interpretation entwickelt – das ist eine ständige Veränderung. Ich kann nicht sagen, dass die Winterreise, wie wir sie jetzt aufführen, richtiger oder besser ist als die Winterreise vor zehn Jahren.”

Weiterhin versteht er im steten Umgang mit Schuberts Liedern die unterschiedlichen Zyklen und deren unterschiedliche stimmliche Anforderungen: „Manches hat vielleicht eher eine lyrische Jugendlichkeit und anderes passt ein bisschen mehr zur gereifteren Stimme oder da passt es auch gut zusammen, wenn es ein gereifterer Interpret macht.” Aber bei einer Sache ist er sich sicher: „Das wird über die Jahrzehnte immer interessanter.” So schätzen beide neben ihren Einspielungen stets auch ihre gemeinsamen Liederabende, „weil man in Live-Situationen vor allem sowieso immer auf das Publikum eingeht und eine gewisse Energie entsteht und diese dann für sich oder für das Werk nutzt”, so Schuen.

2024, fünfzehn Jahre später, können die beiden auf eine überaus ertragreiche Zusammenarbeit zurückblicken. Sowohl Schuen als auch Heide blicken auf prall gefüllte Konzertkalender und um einen Ausblick auf Kommendes zu geben, verrät Heide: „Wir haben natürlich das Glück, dass das klassische Liedrepertoire aus Tausenden von Stücken besteht. Wir entdecken immer wieder Neues.”

Ein paar konkrete Pläne dürfen sie jedoch schon verraten. „In einem unserer nächsten Programme im nächsten Jahr wird es Richard Wagner geben, die Wesendonck-Lieder, und auch eine Auswahl von Strauss-Liedern.” Heide blickt mit Vorfreude auf das neue Programm: „Das ist ein anderes Klavierspielen, das ist auch ein anderes Singen – das ist bei den Strauss-Liedern vom ganz feinen Pianissimo bis zu einem Register, das man auch in Strauss-Opern wiederfindet. Und das ist natürlich sehr reizvoll, weil man die Stimme in ganz vielen Farben ausfahren kann und natürlich dann mit dem Klavier von feinsten Nuancen bis zum konzertierenden Klavierspiel alle möglichen Facetten ausprobieren kann.”

Diskussionen über den nicht zeitgemäßen Charakter des Schubertschen Liedguts weist Daniel Heide entschieden zurück: „Das, was das Lied beinhaltet, ist das, was das Leben beinhaltet. Also Leben und Sterben, Liebe, Hoffen, Bangen, Enttäuschungen in Poesie verpackt.” Heide ist seine Leidenschaft für das Kunstlied deutlich anzumerken: „Das Tolle ist das Zeitlose am Liedgesang. Das können sie nur in Echtzeit haben. Poesie ist immun gegen ,höher, schneller, weiter’. Und darauf muss man sich einlassen.” Es ist besonders die Dualität der Gefühle, die diese Musik hervorrufen vermag. Trotz der melancholischen Themen „sprechen viele von diesen wunderbaren Liedern, dieser wunderschönen Musik. Und das zeigt uns, dass es in der Musik möglich ist, Trauer und Schmerz doch in klingende Himmelsfreude umzuwandeln.”

Diese leidenschaftliche Begeisterung für das Kunstlied, die bei beiden evident ist, ist auf der bei Deutsche Grammophon erscheinenden Studioaufnahme der Winterreise deutlich zu hören. Sie reiht sich in eine lange Ausnahmetradition des Zyklus ein, wird aber dank ihrer Intensität, dem packenden Auf und Ab des einsamen Wanderers, das hier mit zeitgemäßer Direktheit und unpathetischer Ehrlichkeit und dennoch spürbarer Dramatik dargebracht wird, umso hörenswerter.