Allem Anfang wohnt ein Zauber inne… Dieser Gedanke schwebt über so mancher Rheingold-Inszenierung. In den letzten Jahren haben viele Häuser einen neuen Ring gewagt – mit wechselndem Erfolg. Für Regisseur*innen ist Wagners Tetralogie nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Art Gesellenstück, an dem sich Theaterästhetik, Gesellschaftsbezug und musikalisches Erzählen gleichermaßen messen lassen. Nur, allzu oft scheitern ambitionierte Vorhaben an schwächelnden Konzepten oder mutlosen Bildern.
Nicht so Tobias Kratzers Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper, mit der die Opernfestspiele ihren Schluss- und Höhepunkt fanden. Kratzer begegnet dem Stoff mit bemerkenswerter Klarheit und einem scharfen Gespür für gegenwärtige gesellschaftliche Fragestellungen. Seine Welt ist keine verklärt-märchenhafte, sondern eine entzauberte, postreligiöse Gegenwart, in der keine höheren Instanzen mehr existieren – nur noch Projektionen und Ersatzmythen.
Wotans Versuch, durch den Bau einer Götterburg wieder Ordnung zu schaffen, ist ein zutiefst narzisstisches Unterfangen: ein Monument der Selbstvergötterung, das vor allem ihn selbst überdauern soll. Kratzer macht daraus keine Tragödie, sondern einen Abgesang. Der Glaube an eine heile Welt ist längst verloren, doch die Gier nach Macht, Kontrolle und Sinn ist geblieben. Und so beauftragt er Fasolt und Fafner, die ihm eine neue Religion zusammenbauen.
Rainer Sellmaiers Bühne zeigt eine von Einsamkeit und Kälte dominierte Welt: ein verlassener Kirchenraum, der eher einem Bunker gleicht als einem Ort der Andacht. Dort hin ziehen sich drei Mädchen, die Rheintöchter, zurück, um an ihren magischen Tricks zu feilen – sie haben eine unsichtbare Macht entdeckt, die sie nun zu bezwingen versuchen. Diesen „Safe Space“ stört Alberich. Er dringt in ihre Gruppe ein, belästigt sie – er ist ein Lustmolch, aber im Grunde genommen harmlos. Nach einigen erfolglosen Anwerbeversuchen, will er sich gerade von ihnen abwenden, da stellt sich Loge in seinen Weg. Er animiert Alberich, sich das Rheingold zu holen, damit er es ihm später wieder abnehmen kann. Die weitreichenden Folgen sind beiden wahrscheinlich noch nicht klar. Ein brillanter Clou und eine vielversprechende Exposition, die Tobias Kratzer hier darstellt.

Die von Manuel Braun, Jonas Dahl und Janic Bebi gestalteten Videos ergänzen die durchdachte Inszenierung auf hochwertige Weise. Das Resultat ist kein gewollt intellektuelles Konzepttheater, sondern ein emotionales, zugängliches Gesamtkunstwerk, das in seiner Dichte und Konsequenz beeindruckt.
Auch musikalisch war der Abend herausragend. Das Ensemble überzeugte durch starke Einzelleistungen, aber auch durch eine spürbare szenische Geschlossenheit. Nicholas Brownlee gab einen Wotan, der weder altersweise noch allmächtig erscheint, sondern ein Getriebener ist, der in seinem Machtanspruch fast verzweifelt. Sein dunkel timbrierter Bariton besitzt Kraft und Präsenz, doch es ist gerade die Verletzlichkeit in seiner Stimme, die die Figur menschlich macht. Brownlee gelingt es, den Zwiespalt zwischen göttlichem Anspruch und innerer Unsicherheit spürbar zu machen.
Sean Panikkar als Loge ist der heimliche Star des Abends. Mit flexibler, glasklarer Charaktertenorstimme und mimischer Wendigkeit durchmisst er die Figur zwischen Ironie, Verachtung und Zynismus. Wo andere Loges sich in Schalkhaftigkeit verlieren, zeichnet Panikkar einen abgeklärten Intellektuellen, der längst durchschaut hat, wie verlogen die Spielregeln sind – und sie dennoch mitspielt, das Geschehen geradezu folgenschwer lenkt.
Martin Winkler als Alberich beeindruckt mit bedingungslosem Körpereinsatz. Sein Gesang bleibt stets kontrolliert, auch in Momenten größter Wut und Verzweiflung. Seine Verwandlung vom verschmähten Zwerg zum gnadenlosen Machtbesessenen vollzieht sich mit erschütternder Konsequenz. Winkler gibt keinen Karikatur-Bösewicht, sondern ein Opfer unter Opfern – und damit einen der glaubwürdigsten Alberiche der letzten Jahre.
In den Nebenrollen glänzten auch andere: Ekaterina Gubanova als erfahrene Fricka, mit breitem Register und strahlendem Mezzo und Wiebke Lehmkuhl als ätherisch-außerweltliche Erda. Die Rheintöchter, gesungen von Sarah Brady, Verity Wingate und Yajie Zhang und Matthias Klink als Mime rundeten die hervorragende Ensembleleistung ab.
Vladimir Jurowski hat es als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper nicht leicht, denn er trat ein großes Vermächtnis von Kirill Petrenko an. Lange hatte Jurowski sich in München zurückgehalten, wenn es um Wagner ging. Nun zeigt er, wie fein ziseliert, wie kontrolliert dramatisch und gleichzeitig erzählend ein Rheingold klingen kann. Wo andere den musikalischen Verlauf als überlanges Vorspiel behandeln, entwickelt Jurowski ein durchkomponiertes Drama von enormer innerer Spannung.
Sein Dirigat vermeidet allzu plakative Effekte; stattdessen leuchtet er die Partitur mit chirurgischer Präzision aus und hebt immer wieder Momente heraus – seien es die effektvoll positionierten Harfen in den Proszeniumslogen auf beiden Seiten oder die immer wieder hervorgehobenen Holz- und Blechbläser. Das Bayerische Staatsorchester folgt ihm mit höchster Konzentration. Jurowski schafft den Spagat zwischen Kontrolle und Emotion – und schmiegt sich so an Kratzers ebenso durchdachtes aber emotionales Konzept an.
Am Ende bleibt die Frage: Quo vadis? Wohin will der Mensch mit all seiner Gier nach Macht, seinem Geltungsdrang und seiner Rücksichtslosigkeit? Angesichts von Untergangsszenarien, Sinnkrisen und Machtverschiebungen? Kratzer stellt diese Fragen, ohne Antworten zu erzwingen. Er setzt auf die Kraft der Ambivalenz, auf ein Theater, das nicht beruhigt, sondern aufrührt. Wenn die kommenden Teile des Rings dieses Niveau halten, könnte Tobias Kratzers Deutung zu einer der prägenden Wagner-Inszenierungen unserer Zeit werden.