Ins zauberhaft sonnige Griechenland entführt uns Georg Friedrich Händel und sein Textdichter Antonio Fanzaglias in seiner Oper Alcina, basierend auf einer Episode des Versepos Orlando furioso des italienischen Autors Ariost und im 8. Jahrhundert spielend; in arkadischen Gefilden, deren Ruf als Heimat zauberhafter Wesen bereits vor der Barockzeit gefestigt war.

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Gyula Rab (Oronte) und Alina Wunderlin (Morgana)
© Marie-Laure Briane

In einer heutigen, karg düsteren Vorstadt lädt uns Magdalena Fuchsberger ab, Regisseurin der Neuproduktion der Alcina am Gärtnerplatztheater München. Im Detail: Alcina und ihre Insulaner hausen zwischen einem gläsernen Stiegenhaus, dem kalten Fahrgastunterstand einer Bushaltestelle, in der sich aus rätselhaften Gründen eine Discokugel dreht, einer gebogenen Straßenlaterne und dem überdimensionalen Plastikimitat einer siebenarmigen Krake, die allesamt im weitläufigen, seitlich offenen Spielraum immer wieder auf der Drehbühne vor dem Zuschauer kreisen.

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Jennifer O’Loughlin (Alcina) und Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz
© Marie-Laure Briane

Der Sage nach lebte auf einer griechischen Insel die Zauberin Alcina, die in Ungnade gefallene Widersacher und Freunde in Steine, Bäume oder Tiere verwandelte. So gerät auch der desertierte Krieger Ruggiero in ihren Einfluss: möglichst für immer will sie ihn in ihren Armen halten, wo er sein früheres Leben und seine Verlobte Bradamante bereitwillig vergisst. Umgekehrt scheint auch Alcina von Ruggiero wie verhext. Bradamante wiederum, die Ruggiero zurückerobern will, sieht beider Liebe als große Selbsttäuschung. Tatsächlich belastet Ruggiero diese Gefangenschaft zunächst kaum; im Zwiespalt zwischen den zwei ihn liebenden Frauen muss er seine Bestimmung hinterfragen und einen Entschluss über seine Zukunft fassen. Am Ende befreit er nicht nur sich selbst, sondern auch alle auf der Insel verzauberten Menschen.

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Moniká Jägerova (Bradamante), Alina Wunderlin (Morgana), Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz
© Marie-Laure Briane

Fuchsberger sieht in Alcina das Gegenteil von Moral und Sitte; trotzdem findet sie es schade, sie nur zu bestrafen und auszulöschen. Denn Alcina sei auch eine spannende, starke Frau. Wer bei dieser provozierenden Figur landet, erfährt Phasen der Enthemmung, einen Rauschzustand, das „ewig Weibliche“, in das sich Menschen verlieben und verlieren können. Sie erscheine wie eine Art weiblicher Dionysos, durchlebe mit Ruggiero Wahnsinn, Aufstehen zu frischen Zielen, neues Verlieben; ein Delirium zwischen Verführung und Zurückweisung, Hingabe und der Angst vor den trügerischen eigenen Gefühlen. Aus dem Wahn heraus passieren grausame und gefährliche Dinge. Doch Ruggiero sei kreativ, habe eine starke Imaginationskraft. Bei ihm falle es Alcina nicht so leicht wie bei vergangenen Partnern, ihn in ein Tier oder einen Fels zu verwandeln.

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Sophie Rennert (Ruggiero)
© Marie-Laure Briane

Kanten und Ecken der Charaktere, Spiegelungen der erotischen Zustände zu zeigen, in denen sich Figuren gerade befinden, führte dazu, ein Dutzend Tänzer und Tänzerinnen in das Spiel einzufügen. In der Choreographie von Karl Alfred Schreiner erstehen die Fantasien Ruggieros über den Lustgarten, Bradamantes Wut, dass Ruggiero sie vergessen hatte, Alcinas Schmerz über die verlorene Macht. Das übt in seiner virtuosen und geschmeidigen Perfektion durchaus den Reiz einer neuen Dimension beim Hinterfragen der Handlungszwänge aus.

Andererseits verdeutlichen die Ballettszenen nichts, was nicht ohnehin schon bekannt ist oder sich in den kunstvollen Arien erschließt. Streckenweise empfindet man, dass eine Ballettproduktion durch Gesang angereichert wird; das Eigenleben der Ballettposen lenkt vom Spannungsverlauf der von Händel feinstrukturierten Arien ab.

Jennifer O’Loughlin (Alcina) © Marie-Laure Briane
Jennifer O’Loughlin (Alcina)
© Marie-Laure Briane

Am Ende des zweiten Akts ist Alcinas Zauber gebrochen. Der geliebte Ruggiero hat sich aus ihrem Bann gelöst, wendet sich von ihr ab. Kalt erwischt sie dies; Alcinas Schockstarre ist in den Staccati des bewundernswert präsenten Orchesters zu entdecken. Noch bevor Ruggiero Alcina mit einer oft präsenten Pistole erschießt, ziehen alle in die Bürgerlichkeit von Bungalow, Babywagen und Bierflaschen beim gemütlichen Grillabend zurück; vorbei die Welt des Sinnlichen, Kämpferischen, Magischen. Alcina fristet ihr Dasein wie eine Wohnungslose mit Säcken voller Klamotten in der ungemütlichen Bushaltestelle.

Jennifer O’Loughlin verkörperte die Titelpartie mit enormer Intensität, lotet dabei ein breites Spektrum an Emotionen aus, von überschwänglicher Vorfreude auf die Liebe in lockerer Koloraturhöhe bis zu tiefer Verzweiflung. Ihre Arie „Ah, mio cor” war ergreifend, ebenso wie das getragene „Mi restano le lagrime” am Ende, wenn nur die Tränen bleiben.

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Sophie Rennert (Ruggiero) und Moniká Jägerova (Bradamante)
© Marie-Laure Briane

Die Mezzosopranistin Sophie Rennert durchlebte die Gefühlsschwankungen des jungen Ruggiero empathisch, berührte mit wunderbar intimen Momenten, etwa wenn sie im berühmten „Verdi prati” die Schönheit der Natur preist. In stupendem Geschwindigkeitsrausch ihrer Koloratur triumphierte sie über Alcina mit ihrer Ausdruckskraft in „Sta nell'Ircana pietrosa tana” vom Balkon ihres Bungalows.

Andreja Zidaric als Alcinas Schwester Morgana beeindruckte in selbst langen Koloratur-Passagen durch sehr leichte und genaue Gestaltung, Moniká Jägerova mit schönem Mezzo-Timbre als mutige Bradamante. Blitzende Sopranspitzen gefielen bei Mina Yu, Sängerin des Oberto, der auf der Suche nach dem Vater auf der Insel gestrandet war. Oronte und Melisso wurden von Gyula Rab und Timos Sirlantzis mit warmem und kraftvollem Stimmeinsatz exzellent verkörpert.

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Alcina
© Marie-Laure Briane

Auch instrumental konnte das Gärtnerplatztheater mit einem Spitzenensemble aufwarten. Rubén Dubrovsky leitete umsichtig das Orchester, dessen federnder Elan und substanzreicher Klang die barocke Klangwelt gut traf. Mit präziser Agilität und Wärme spielte die hervorragende Continuogruppe; besonders eindrucksvoll die Violoncello-Soli von Stefan Schütz. Schade nur, dass neben den herausragenden musikalischen Leistungen von der Inszenierung ein zwiespältiger Eindruck zurück blieb.

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