Andrea Chénier ist ein anspruchsvolles Arienfest, zu dem man zwangsläufig die Besten einladen muss, und an der Wiener Staatsoper erlebt man in dieser Wiederaufnahmeserie ein neues Traumpaar: in der Titelpartie begeistert Michael Fabiano, und Sonya Yoncheva, die zuletzt als Iolanta die beste Premiere der Saison anführte, setzt als Maddalena di Coigny ihren Höhenflug fort. Als eifersüchtigen Carlo Gérard konnte man George Petean anstelle des erkrankten Luca Salsi verpflichten, und auch diese Besetzung erwies sich als Glücksgriff: eingebettet in eine starke Ensembleleistung sorgten die drei für den besten Andrea Chénier an diesem Haus in vielen Jahren – und das, obwohl in der Vergangenheit Superstars wie Jonas Kaufmann und Anja Harteros oder auch Anna Netrebko auftraten.
Das fulminante neue Trio lässt nämlich praktisch vergessen, dass die freundlich-harmlose Inszenierung nach Otto Schenk (die besprochene Vorstellung war die 125. seit 1981) eher ins Biedermeier als ins Heute gepasst hätte, auch wenn das Uraufführungsdatum 1896 aus Sicht des Biedermeier in ferner Zukunft lag und das Werk wohl in jeder Hinsicht schockiert hätte: das Trauma der Französischen Revolution saß noch tief, und Verismo war ein noch unbekanntes Fremdwort.
Dieser Stilrichtung ist eigen, dass sie zwar den Realismus behauptet, aber in jeder Hinsicht dick aufträgt: Die Tragödie des hingerichteten Dichters André Chénier allein genügt nicht, es muss ihn auch noch eine schöne junge Adlige freiwillig zum Schafott folgen, und auch sonst lässt die Handlung bereits an Hollywood denken. Dass Luigi Illica in seinem Libretto die Figurenkonstellation der von ihm mitverfassten Tosca vorwegnahm (der politisch mächtige Bariton begehrt die Geliebte des Tenors), ist so eine Zuspitzung, doch gibt es auch eine spannende Parallele zu Don Giovanni, da beide Werke mit der Klage eines Dieners über das Diener-Dasein beginnen. Aber wo Leporello bei Da Ponte noch buffo wirkt, herrscht bei Carlo Gérard bitterer Ernst, der ihm zunächst seine Entlassung, doch bald eine einflussreiche Position bei den Revolutionären bringt.
Kontrastiert wird der dieser erste Eindruck durch die Vorbereitungen zu einer noblen Soirée, womit die Ausgangslage der Französischen Revolution einfach, aber perfekt illustriert wird – wenn man die Botschaft so eindringlich vermittelt wie eben George Petean und Sonya Yoncheva: hier die aufgestaute Wut des Untergebenen, da die zwiespältige Adlige mit ihren Luxusproblemen. Einerseits schwärmt sie für Chéniers humanistische Gesinnung, andererseits hat sie kein aufmunterndes Wort für die arme Dienerin Bersi, die sich hässlich findet, und später die Herrin durch Gelegenheitsprostitution durchfüttern wird.
Die Energie, mit welcher Yoncheva und Petean das Maximum aus ihren ersten Auftritten holten, wo andere vergleichsweise hohle Phrasen dreschen, zog sich durch den ganzen Abend, und Michael Fabiano in der Titelpartie stand ihnen um nichts nach. Eine derart ebenmäßige Leistung vom Anfang bis zum Schluss ist selten: vom prophetischen „Un dì all’azzurro spazio“ über das energische „Si, fui soldato“, bis hin zum lyrischen “Come un bel dì di Maggio” passte alles, und auch im finalen Duett konnte er noch aus dem Vollen schöpfen. Abgesehen davon könnte die Bühnenchemie zwischen ihm und Yoncheva kaum besser sein.
Maddalena hat zwar mit „La mamma morta“ nur ein bekannte Arie, aber diese bietet großen Gestaltungsspielraum, den Yoncheva großzügig nutzte: ein dunkler, kehliger Ton für den Schreckensbericht der Vertreibung aus dem Elternhaus, in das der helle und reine Ton der Hoffnung wie ein Lichtstrahl bricht – das ist immer ein Erlebnis, und doch drückte ihm Yoncheva ihren eigenen Stempel auf. Für eine ganz andere Art von Gänsehaut sorgte wiederum Petean mit dem zynisch-siegessicheren „Nemico della patria“, und auch die Wendung vom Saulus zum Paulus gelang ihm glaubwürdiger als vielen anderen.
An diesem Abend konnte man auch erleben, wie ansteckend der konsequente Gestaltungswille in den großen Partien auf das restliche Ensemble wirken kann. So gaben etwa Daria Sushkova als Bersi und Juliette Mars als Maddalenas Mutter wesentlich eindrücklichere Rollenporträts, als man erwarten kann. Aber auch Madelon, verkörpert von Monika Bohinec, erregte jenes Aufsehen, das sich einstellen sollte, wenn jemand bereit ist, den letzten Nachkommen in den Krieg zu schicken (die Geschickten wurden seinerzeit wohl nicht gefragt). Auch die männlichen Nebenrollen waren bestens besetzt, wobei die Leistungen von Carlos Osuna als Spion Incroyable, Stefan Astakhov als Roucher und Ilja Kazakov als Mathieu speziell gewürdigt seien.

Eine besondere Erwähnung hat sich auch der Chor verdient, der in der Rokoko-Idylle des ersten Bildes ebenso überzeugte wie als Revolutionsmob. Musikalisch kompetent zusammengehalten wurde der Abend von Pier Giorgio Morandi, der die Sängerinnen und Sänger hinsichtlich der Lautstärke nicht unnötig herausforderte, und sie in ihrem Gestaltungsdrang unterstützte. Die eine oder andere minimale Abweichung gehört zum Phänomen live und fällt an einem Abend mit so viel Herzblut nicht ins Gewicht.