Auf den ersten Blick scheinen Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Trauerspiel Egmont und Tschaikowskys Fünfte Symphonie nichts gemeinsam zu haben. Doch der Gedanke, sich dem Schicksal zu stellen, hielt die beiden Werke des letzten Abonnementskonzerts der Berliner Philharmoniker und Gustavo Dudamel zusammen.

Die erste Hälfte des Abends war für Kenner musiziert; denn ohne die Kenntnis von Goethes Trauerspiel Egmont musste die Aufführung am Hörer vorbeigehen, zumal sowohl die Worte, die Christina Landshamer in den beiden Klärchen-Liedern zwar mit Hingabe vorzutragen wusste, als auch die, die Felix Kammerer, Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, als Rezitator eindringlich in den Saal wuchtete, nicht immer verständlich waren.
Wer aber das Drama kannte, folgte der Darbietung mit großem Gewinn. Dudamel wählte einen kompakten Zugang. Den Sarabanden-Rhythmus der Ouvertüre nahm er so robust, dass er dem Hörer einen Schrecken einzujagen vermochte, während er in den Seufzerfiguren der Holzbläser die Klage der Unterdrückten vernehmen ließ. Er entfachte in der gesamten Ouvertüre jenes Feuer einer durch keine höfische Konvention zu bremsenden Heftigkeit, die den Titelhelden lebendig charakterisierte.
Landshamer ließ in zwei Liedern die beiden Seiten von Klärchen je für sich klingen: zunächst, mit Energie und begeistert vorgetragen, das Soldatenliedchen, in dem sie so energisch wie vergebens versuchte, das Volk zum Aufstand aufzustacheln. Ohne einen Hauch von Ironie, sondern im Ton der Selbstbestimmtheit sang die Sopranistin am Schluss ihr„Welch Glück ohne gleichen, ein Mannsbild zu sein“. Später erklang so schwärmerisch, wie differenziert im Ton das Lied Freudvoll und leidvoll. Albrecht Mayer ließ diese Töne auf seiner Oboe in der angeschlossenen Zwischenaktmusik beseelt nachwirken.
Sehr eindrücklich gelang es, wie im Melodram das Hinübergleiten des gefangenen Egmont in eine andere Welt in Tönen versinnbildlicht wurde. Mit großem Elan ließ die Aufführung das Stück in der Siegessymphonie kulminieren, in der am Schluss tatsächlich doch Klärchens „Pfeifchen“ triumphierte.
Tschaikowsky setzte ans Ende seiner Fünften Symphonie eine Coda, die durchaus als Siegessymphonie bezeichnet werden könnte. Ob Dudamel daran dachte, muss offen bleiben. Ein Drama in Tönen brachte er aber allemal zu Gehör. Der erste Satz war, noch verhalten musiziert: sorgfältig und klar in der Anlage. Den zweiten Satz, in dem sich die Solostimmen am Thema förmlich zu übertrumpfen versuchten und schließlich doch einsehen mussten, dass der Hornist Yun Zeng es am ausdrucksvollsten zu Gehör gebracht hatte, nahm Dudamel als Steigerung des Kopfsatzes.
Mit einem beschwingt genommenen dritten Satz ebnete Dudamel dem Finale seinen Weg, in dem er alle drei Sätze noch einmal zu überbieten verstand. Am Schuss hielt das Orchester inne und Dudamel zog den Vorhang auf zu einer großen Apotheose. Man kann dies als eine Wendung ins Dur inszenieren und die Coda spielen, als wäre Tschaikowsky ein Vorbote Schostakowitschs; man kann sich und seine Zuhörer aber auch in einen Rausch versetzen und das Subjekt sich in den letzten Takten gegen das Schicksal behaupten lassen. Dafür hatte sich Dudamel entschieden. Für mich hatte dieser Schluss etwas von jenem tönenden Lorbeerkranz, mit dem der verscheidende Egmont in der ersten Programmhälfte verklärt wurde, dessen Erlösung Goethe in die Musik gelegt haben wollte. Das Finale von Tschaikowskys Fünfter Symphonie hatte in dieser Aufführung tatsächlich etwas von einer Erlösung.