Das Frühlingsfest des Lucerne Festivals feierte mit zwei Konzerten die Uraufführung von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 in d-Moll, Op.125. Das vor 200 Jahren im Wiener Kärntnertortheater uraufgeführte Werk ist noch nie so häufig wie derzeit in den Konzerthäusern dieser Welt – zu jeglichen Anlässen und auch immer wieder gerne zum Jahreswechsel – und von Orchestern sämtlichen Ranges erklungen. Mit dem ergreifenden Schlusschor „Ode an die Freude“ evozierte Beethoven auf musikalische Art den Ruf nach Freiheit als humanistisches Ideal und sprengte dabei jegliche musikalische Konventionen seiner Zeit. Sicherlich haben spätere Komponisten wie Gustav Mahler oder Anton Bruckner die Grenzen dieser Gattung noch weiter gedehnt. In seinem immanenten Absolutheitsanspruch und ihrer Erhabenheit ist Beethovens letzte Symphonie jedoch niemals übertroffen worden.

In der gegenwärtigen Weltlage sind die des Komponisten in Friedrich Schillers Lyrik ausgedrückten Freiheitsgedanken schon lange nicht mehr so relevant wie heute. Und doch verkennen wir im hektischen Konzertbetrieb, einem vermeintlichen Überfluss unterlegen, gelegentlich die universelle Bedeutung von Beethovens Neunter und sehen das Werk allzu sehr als eine Selbstverständlichkeit an. So wissen uns heute, aus den aberhunderten Aufführungen dieser Symphonie, lediglich ganz Einzelne wirklich in der Tiefe zu berühren und die Signifikanz der Komposition in all seiner Größe wertzuschätzen.
In Luzern geriet Franz Welser-Mösts Interpretation – ein begnadeter Dirigent für die Epoche der Wiener Klassik, respektive der Frühromantik – zu einer dieser Ausnahmedarbietungen! In diesem mitreißenden Beethoven-Konzert debütierte der österreichische Dirigent am Pult des Lucerne Festival Orchestra, jenem alljährlich aus dem Mahler Chamber Orchestra, internationalen Kammermusiker*innen sowie Solist*innen internationaler Spitzenorchester zusammengesetzten Klangkörper, welcher in seiner Art der Aufstellung und seinem intimen Zusammenspiel einzigartig ist. Der eigentliche Chefdirigent des Orchesters, Riccardo Chailly, selbst einer der aufregendsten Beethoven-Interpreten des 21. Jahrhunderts, musste zuvor aus gesundheitlichen Gründen sein Mitwirken zurückziehen.
Welser-Möst orientierte sich im Kopfsatz der Symphonie zunächst an den berüchtigt straffen Tempi Chaillys, lenkte dabei mittels strenger Präzision den Fokus auf die Form der Komposition, welche bei Beethoven stets das Wesenselement der Kunst ist. Dabei entstand eine ausdrucksstarke Vitalität, gar eine spielerische Leichtigkeit des Orchesters, welche das Publikum zum konzentrierten Zuhören anregte.
Im folgenden Satz, dem Scherzo, ließ Welser-Möst eine musikalisch feinfühlige Ironie durchscheinen, welche dennoch stets auf einer gewissen Doppelbödigkeit beruhte, die durch die donnerartig einsetzenden Pauken, neben den bewusst gesetzten Generalpausen als Rückbesinnungsmoment, ihren Ausdruck fand.
Im langsamen Satz des Adagio molto e cantabile nahm Welser-Möst das Tempo dezent zurück und schuf einen schlichten, doch zärtlichen, wie eleganten Streicherklang von kantabler Simplizität. Der heftige Kontrast im ermahnenden Einbrechen der Hörnerfanfare rüttelte umso mehr auf.
Den Finalsatz ließ Welser-Möst im Attacca einbrechen: Die mit Empathie gefüllte, stolze Baritonstimme von Markus Werba eröffnete das Schlussquartett, in welches Benjamin Bruns mit kraftvoller, vitaler Tenorstimme einstimmte. Als eine der renommiertesten Schweizer Sängerinnen fügte sich Regula Mühlemanns hell-goldene Sopranstimme ganz engelsgleich dem samtig-geerdeten Mezzosopran von Marie-Claude Chappuis. Die geschmeidig und weichen, dabei hell differenziert den Konzertsaal erfüllenden Jubelrufe des MDR Rundfunkchors schmiegten sich eng an den dichten, pulsierenden Streicherklang des Lucerne Festival Orchestra, hin zu einem rasanten Freudentaumel im unisono – welcher lediglich dezent im Effekt, dabei umso stärker im humanitären Ausdruck – das Publikum zutiefst bewegte und in jedem Ton den Geist seiner Komposition atmete.
Franz Welser-Möst nahm die tosenden Ovationen im KKL Luzern lediglich mit einem kurzen, dezenten Lächeln, ohne des Weiteren eine Miene zu verziehen, entgegen. Dem Dirigent ward wohl gar nicht bewusst, dass er mit dieser exzeptionellen Aufführung in den Herzen des aufgewühlten Publikums wahrhaftig den Funken des Freiheitsideals im Sinne Beethovens und Schillers entzündet hat.