Nirgends ist die Dichte an Geigenbauern größer als in Wien. Eine von ihnen ist die gebürtige Bonnerin Bärbel Bellinghausen, die auf die Frage, wem sie denn gerne noch ein Instrument bauen wollte, Amandine Beyer antwortete. Beyer ist eine der bekanntesten Barockgeigerinnen unserer Zeit und unter anderem Leiterin ihres Ensembles Gli Incogniti. Ihr Programm bei den Zeughauskonzerten Neuss warf einen Blick auf die Tradition dieses heutigen Wiener Umstands im Streicher-Musikhandwerk und die einer ebenbürtigen Institution neben Wien: Innsbruck, Hauptstadt Tirols und eine der Kapitalen Alter Musik; oder „das Paradies Italiens, Europas und der Welt“, laut Diego Lequile 1655.

1655 ist die Zeit Jakob Stainers, in der Nachbarstadt Innsbrucks geboren, in Innsbruck lebend, gut 350 Jahre vor Bellinghausen zum berühmtesten deutschsprachigen Geigenbauer in Italien ausgebildet. Aus Italien zog es die Violinkünstler und Komponisten zu Stainer, seinem Holz und den musikverrückten Hof nach Innsbruck beziehungsweise ohne Stainers Ansässigkeit zur „zentralen“, dem neuen Stil frönenden, kaiserlichen Kapelle nach Wien. Oder aus Mähren, an dessen Kremsier Hof Stainer später genauso liefern sollte wie nach Italien, Südtirol, Salzburg, München und Nürnberg. Folglich kamen bei Gli Inogniti die dorther stammenden oder agierenden Größen des Seicento-Barock und auch Beyers Vorgänger zu Gehör: Giovanni Antonio Pandolfi Mealli, Giovanni Buonaventura Viviani, Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Heinrich Schmelzer und Antonio Bertali.
Der qualitative Vergleich Beyers als Nachfahrin jener Geigengiganten scheint dabei nicht überzogen, entführte sie gleich mit Meallis La Castella-Sonate und ihrem ciaccona- oder passacagliahaften Schnack Sogwirkung entfaltend in die wunderbare Welt dieser Meister, als sie mit leichtem Seicentobogen Berührung auslöste sowie sich über dem Ostinatobett ihres Continuos mit innerem Kompass fallen ließ und darauf warm-virtuos strahlte. Beyers Generalbassbegleitung bestand aus selbstarrangiertem Claviorganum, Chitarone und Gambe (Baldomero Balciera), von denen die ersten beiden (Cembalo, nicht Truhenorgel) die Violindarbietungen rein solistisch unterbrechen sollten. Zunächst tat das Lautenist Francesco Romano mit der Toccata I di Libro quarto d'intavolatura di chitarone des Theorbentitans Johannes Hieronymus Kapsberger, die er mit delikatem, feinen Anriss und ungezwungener, minnelieblicher, jedenfalls rezitativ-kantabler, bei den Diminutionen beinahe beiläufiger Attitüde in eine zerbrechlich schöne Klangatmosphäre verwandelte. In solche voller Würde und Ritterlichkeit, die am liebsten nicht endete, sowie mit gestochener (Verzierungs)Klarheit und gestalterischer Ausdruckskraft bugsierte einen Anna Fontana mit Johann Jakob Frobergers Lamento sopra la dolorosa perdita della Real Maestà di Fernando IV, Rè de Romani.
Beyer untermauerte mit den Großmeistern schlechthin, Biber und Schmelzer, ihr Können noch beeindruckender, indem sie Schmelzers typisch mit Extravaganzen angereicherte Sonata V delle Sonatae unarum fidium in intonatorisch reiner Brillanz und expressiv-affektuösem Lichtwechsel ohne gewollte Prahlerei beherrschte. Für sich sowie Komponist, Instrument und Technik sprach auch Bibers (Charles Brewer meint Schmelzers) freilich noch speziellere Sonata violino solo representativa in A, die 1669 verfasst, aber erst 1681 veröffentlicht dem Salzburger Erzbischof gewidmet worden war. Mit weichem, lockerem Charme und doch effizienter, erkennbarer Prise Folklore und Witz brachte Beyer deren tierische, lautmalerisch-deskriptive Imitations- und Fantasieeffekte nach getreuer Darstellung Athanasius Kirchers heraus, die einst Jahrzehnte zuvor Carlo Farina in die Violinschule integriert hatte. In Bibers Sonata versteckt sich übrigens der „Musquetiermarsch“, den er vier Jahre später in seinem berühmten Schlachtengemälde Battaglia à 10 minimal umgeändert wiederverwendete. Mit besonderer Anmut, Sauberkeit sowie erhabener Spiel- und Kontrastfreude versahen Beyer und Gli Incogniti Vivianis Symphonia cantabile, Op.4, während bei Meallis La cesta-Sonate noch lebhaftere Bogenbetonung mit einhergehender Dynamik elementare, musikempfindsame Vitalität und poetische Kunstfertigkeit in ballastloser Hingabe versprühte.
Auch wenn der Wunsch ewigen Weiterspielens vor zwei Zugaben mit Nicola Matteis „Preludio“ zur G-Dur-Suite und Bibers drei letzten Sätzen der Sonata durch Bertalis bekannten Ciaccona-Schlager natürlich nur angedeutet werden konnte, trug der Ohrwurm nach Hause, wo sich die Begierde konstant vergrößert, diesem neuzeitlichen (italienisch-)österreichischen Paradies, Ort egal, wieder rasch live lauschend nah zu sein.