New York Polyphony: das sind vier Stimmen, die auf Grund ihrer individuellen solistischen Qualitäten perfekt miteinander harmonisieren wie ein gut aufeinander eingespieltes Streichquartett. Seit 2006 beeindrucken die vier Amerikaner mit gut abgestimmten Programmen, in denen sie neue Kompositionen mit teilweise wiederentdeckter Renaissancemusik verbinden. Ihr letztes Konzert am Palmsonntag im Muziekgebouw von Amsterdam war der Passionszeit gewidmet. Unter dem Titel And the sun darkened sangen Countertenor Geoffrey Williams, der auch als künstlerischer Leiter fungiert, die Tenöre Steven Caldicott Wilson und Andrew Fuchs und der Bass Craig Phillips überraschende Kompositionen aus vier Jahrhunderten.

New York Polyphony © Jacob Blickenstaff
New York Polyphony
© Jacob Blickenstaff

Zwei Werke von Loyset Compère, einem Komponisten aus der französisch-flämischen Schule, der wie auch der Spanier Francisco de Peñalosa im 15. Jahrhundert geboren wurde, nahmen den größten Raum ein. Sein Officium de Cruce ist eine Vertonung eines Hymnus aus dem 14. Jahrhundert, der die Episoden der Passion in einer ununterbrochenen musikalischen Erzählung verfolgt: vom Verrat Christi bis zu seinem Tod – als die Sonne sich verdunkelte – und der Grablegung. Officium de Cruce, ein langes dramatisches Werk ist untypisch für seine Zeit. Es war wahrscheinlich für den privaten Gebrauch bestimmt für Galeazzo Maria Sforza, den Herzog von Mailand von 1466 bis zu seiner Ermordung ein Jahrzehnt später. „Die dramatische Form des Officium de Cruce ist in gewisser Weise ein Prototyp für die Madrigalzyklen, die im späten 16. Jahrhundert aufkamen”, so Williams.

Von den Renaissancegesängen ging es nach launig präsentierter aber immer sympathischer Conference von Williams ins 20. Jahrhundert: Cyrillus Kreek (1889-1962) schrieb sein Taaveti laul 22 (Davids 22. Lied), „Mein Gott, warum hast du mich verlassen” in estnischer Sprache. Kreeks lautmalerische Vokalkompositon war die spannendste des Abends mit verwegenen Harmonien und überraschenden rhythmischen Wendungen. Die meisten seiner Werke basieren entweder auf Volksmusik mit weltlichen oder geistlichen Texten. Schon während seiner Konservatoriumszeit begann Kreek mit dem Sammeln von Volksliedern. Im Laufe seines Lebens archivierte er so 6.000 Werke, nicht nur von Esten selbst, sondern auch von der in Estland lebenden schwedischen Minderheit.

Vor der Pause gab es noch die Lamentationes Jeremiae des Flamen Thomas Crecquillon. Zu seinen Lebzeiten und noch längere Zeit danach genoss Crecquillon ein hohes Ansehen. Nach Clemens non Papa und dem späten Orlando di Lasso steht er mit der Verbreitung seiner Werke an der Spitze seiner Zeitgenossen. Eines seiner Werke ist selbst auf dem Gemälde Konzert im Ei von Hieronymus Bosch abgebildet. Die Sänger von NYP beeindruckten hier mit verblüffenden solistischen Klangakzenten, die dem Fluss dieser meditativ schwebenden Tonmalerei immer neue Wendungen gab.

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Konzert im Ei von Hieronymus Bosch mit Noten von Crécquillon
© Public domain

Nach der Pause folgte ein 2020 für NYP komponiertes Klagelied des Briten und Norwegers Andrew Smith (geb. 1970). Smith ist seit den Anfängen von NYP mit dem Ensemble verbunden. Die Musik, die er für die Gruppe komponierte, hat einen so wichtigen Platz im Repertoire der Gruppe eingenommen, dass sie Smith als einen Schlüsselfaktor bei der Entwicklung ihres gefeierten Klangs betrachten. „Durch Andrews Musik haben wir gelernt, als eine Einheit zu singen”, sagt Phillips. Auch Smith vertont Textzeilen aus den Lamentations of Jeremiah. Er widmete sein Werk seinem kurz zuvor an Knochenkrebs verstorbenen Vater, worauf im lateinischen Text („Er sandte von oben herab Feuer, das in meinen Knochen brennt”) verwiesen wird.

NYP singt beeindruckend homogen ohne die individuellen Qualitäten seiner Sänger aufzuopfern. Ihr makelloser mehrstimmiger Gesang lädt dazu ein, auch weniger bekannte Kompositionen wiederzuentdecken.

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