Für den offiziellen Einstand als musikalischer Leiter respektive künstlerische Direktorin der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik blieben sich Ottavio Dantone und Eva-Maria Sens selbst ganz treu: Seltenstes oder gleich im Umfang eines Werkes neuzeitlich Erstaufgeführtes der verlässlich danach lechzenden Öffentlichkeit zu präsentieren. Nach dem Inaugurationskonzert mit der Serenata Il trionfo della Fama Francesco Bartolomeo Contis war das bezüglich der diesjährig ersten szenischen Produktion einer Festwochenoper Geminiano Giacomellis Cesare in Egitto.

Eine Oper, die zur Karnevalssaison 1735 in Mailand uraufgeführt wurde, ehe sie am 24. November desselben Jahres in Venedig eine weitere Premiere erlebte. Denn Giacomelli hatte die Oper teils neu geschrieben, um sie den dortigen schillernden Sängerfähigkeiten anzupassen. Der 24. November sollte sich dabei kurioserweise als entscheidendes Datum sowohl für den Komponisten als auch den mit Domenico Lalli in die Geschichte eingegangenen Co-Librettisten Carlo Goldoni herausstellen. Auf den Tag genau ein Jahr zuvor hatte der studierte Anwalt, doch lieber als Autor lebende Goldoni nämlich in Venedig eines seiner Theaterstücke präsentieren und damit seinen Durchbruch schaffen dürfen. Giacomelli, der bis 1737 Kapellmeister in Parma gewesen war, ging im selben Jahr nach Graz, um unter anderem die Premiere seines Cesare im Habsburgischen Reich zu dirigieren. Darauf wurde er am 24. November zum Kapellmeister von Santa Casa in Loreto ernannt, wo er im Januar 1740 starb.
Die zweite Fassung bildete nun die Grundlage für die Innsbrucker Aufführung, für die Dantone und sein getreuer Editor Bernardo Tricci verantwortlich zeichneten. Eine Edition, die die Accademia Bizantina, Ensemble des Maestros al Cembalo und fortan auch Festwochen-Residenzorchester, mit gewohnter Attacke und Emotion, Dynamik und Schwung sowie beachtender Balance zum Leben erweckte, ohne in übertriebene, die generelle Coolness Dantones Zuwerkegehens eventuell konterkarierende Affektiertheit zu verfallen. Wohlgesetzte Effekte wie improvisiert-harmonisierende Cembaloverzierungen, Rhythmik, Stil und Drama unterstützende Streicherakzente oder mit kräftigem, langem Alarmton hineinprustende Hörner in Tolomeos „Scende rapido spumante“ nach Battaglia-Zwischenspiel zum Ende des Zweiten Akts garnierten exemplarisch vielmehr Giacomellis originelle, immer wieder überraschende Musik sowie damit natürlich den besungenen Gemütszustand.
Jede Arie bestätigte sich dabei als melodiöser Ohrwurmknaller; solche auch mit sehr hohen, erwähnten venezianischen Anforderungen, die die dafür ausgesuchte Solistenriege in Innsbruck einerseits mit Bravour, andererseits einer verständlichen Portion Respekt meisterte. Erstes und letztes Wort in den für jeden mit vier beziehungsweise fünf ausgewogen verteilten Arien gebührte selbstverständlich Cesare, den Arianna Vendittelli mit der instrumental übereinstimmenden entschlossenen, durch weich-weise Phrasierung erlangten Leichtigkeit durch alle Register- und Technikherausforderungen sang, um bei allen Schattierungen menschlichen Charakters glaubwürdigst die römische Ehre und Stärke zu demonstrieren.
Trotz körperlich unterstreichender Rhythmik und Stimmgeläufigkeit merklich bedächtiger in ihren ersten zwei Arien, dann im Stimmausdruck ihres stets stil- und eleganzschicklichen Soprans zu üblicher Klasse wachsender agierte Emőke Baráth als berechnende Cleopatra. Das dazu seine Regungen und Eigenschaften weit offensiver, jeweils untereinander relativierend zur Schau stellende „Gegenpaar“ fand in Valerio Contaldo als Tolomeo und Margherita Maria Sala als Cornelia zwei Temperamentsbolzen, die sich für den eigenen Stolz ins Zeug legten. Dabei wartete Contaldo mit seinem von Grund auf elektrisierenden, wenngleich etwas härtlicheren, dennoch durch weiche Legatopassagen gedimmten, letztlich auch noch tragenden und gekonnt zur Geltung kommenden Tenor auf. Salas farbiger Alt und famose Bühnentier-Theatralik, bei der klar war, wer in Cornelias Dauerwutanwandlungen die Hosen anhatte, sorgte für die eindrücklichsten Rezitative. Zugleich wusste sie resolut in den Arien mit Tempi und Artikulation, vor allem bester Deklamation, umzugehen.
Zu einer Barockoper gehört, dass die beiden Helfer der Lager schließlich das Blatt in die erwartete Richtung wenden. Das tat zum einen Filippo Mineccia in seiner Rolle als Cleopatra liebender, feldmarschalliger Ägypten-Generaldiener Achilla mit countertenor-wechselnder Technik, großer Hingabe und über die Zeit immer besser dazu passender geführter Stimme. Und zum anderen Federico Fiorio als leidender, Cornelia verfallener Lepido mit ebenfalls sukzessive müheloserem, geschmeidigerem, allerdings ohne ätherisches Klangidiom ausgestattetem Sopran.
Größtes Verdienst Leo Muscatos Inszenierung im Team mit Andrea Bellis Bühnenbild und Giovanna Fiorentinis Kostümen ist es, sich auf Giacomellis außergewöhnliche Musik konzentrieren zu können. Außerdem, das Sujet des grausamen Krieges neben einer allgemeinen Effizienz durch bewussten Nicht-Historismus zeit- und auch ein wenig ortlos zu gestalten, sind die archetypisierten Riesen-Legionärsrüstungen mit griechischen Helmen versehen, die Ägypter in europäischer Galauniform mit Fes behütet, die tatsächlich spielenden Römersoldaten in Bergwacht-SEK-Montur unterwegs und dazu moderne Schussgeräte im Umlauf.
Denn der Regie kam freilich durch Goldonis Nicht-Neuerfindung des Rades sowie überhaupt das ständige Sofort-die-Grenzen-abstecken und eigentlich Erfreuliche des Mit-der-Tür-ins-Haus-fallens der Fassung die mitunter undankbare Aufgabe zu, der Geschichte dennoch spannendes Gesicht zu verleihen. Viel mehr als die mit Hieroglyphenwandstücken für ein symbolisierendes Labyrinth bestückte drehende Bühne, die zudem nicht konsequent zu den vermeintlichen Windungen der Personen rotierte, fiel Muscato jedoch nicht ein. Des Weiteren verdutzten manche kleinere Logikbrüche. Insgesamt aber bleibt besonders durch die großartige musikalische Umsetzung festzuhalten: ein gelungener Einstand mit drei Siegern – Giacomelli, Dantone und die Innsbrucker Festwochen.