Standen Couperins Leçons de ténèbres die letzten – coronafreien – Jahre auf dem Karmittwochs-Spielplan der Kölner Philharmonie, blieb es auch an diesem Tage ungewöhnlich still. Stattdessen sollte das klassische Neun-Uhr-Konzert jenes Datums auf Gründonnerstag verschoben und der nahen Leidensstunde nun einmal mit Johann Adolph Hasses Passionsoratorium, Sanctus Petrus et Sancta Maria Magdalena, gedacht werden. Einem Werk, das der damals seit fast sechsundzwanzig Jahren in Diensten des Dresdner Hofs und seines Herrschers August III. stehende Hasse in Venedig, seinem Zweitwohnsitz, Geburtsort seiner Frau und zeitweiligen Dienstposten seiner Maestrotätigkeit am Ospedale degli'Incurablili, komponiert hatte; und natürlich trotz aller großen kirchenmusikalischen (sowie harmonischen Stabat-Mater-) Tradition – „schlicht“ nur für Streicher und Continuo gesetzt – die innovative, barock-neapolitanische, hier stärker frühklassische Opernhandschrift des Komponisten trägt, die ihn zu seinem Weltruhm verhalf. Rüdiger Lotter und sein Ensemble der Hofkapelle München, besondere Verfechter Hasses, ließen der Klage über den Kreuzestod Jesu eine superbe – ohne den Part Joseph von Arimathäas freiheitlich redigierte – Interpretation angedeihen.

Das Opfer Christi beweinen dabei in erdachtem, sinnhaft auch große Anforderungen an die tiefen Lagen stellendem Gesprächsformat Petrus, der sich sein verleugnendes Handeln vorwirft, und die ebenfalls mit sich ringende Maria Magdalena gemeinsam mit Maria Jacobi und Maria Salome. Während Petrus im Ergebnis der Überlegungen allerdings nicht nach Golgatha zur letzten Ehrerweisung und der Bitte um Vergebung im Angesicht von Leib und Seele Jesu zurückgeht, obliegt den Frauen der Weg zum Leichnam, der schließlich noch begraben werden muss. Das Stück endet – vermeintlich unkonventionell – mit einem Rezitativ, was allerdings dem typischerweise isagogischen Umstand des Hasse'schen Oratoriums geschuldet ist, dass sich der in Köln zum Glück nicht einer weiteren Streichung unterzogene liturgisch-inhaltlich vorgegebene Miserere-Psalm (wie am Ende des Autographs ausdrücklich erwähnt die Dresdner Vertonung in d-Moll nur für Frauenstimmen) angeschlossen hat, zu dem Petrus mit letztem Wort auffordert.
Die Hauptrollen bei der Hofkapelle München übernahmen Countertenor Ray Chenez und Sopranistin Marie Lys, die nicht nur im duettierten Halbgebet und entscheidenden Argument zur persönlichen Weggabelung wunderbar in ihren Stimmfärbungen, allen voran aber den fantastischen Phrasierungsmustern durch mein musikalisches Herz aufgehende Betonung, gehaltene Ansätze und berührende Kantilenenführung zusammenpassten, sondern auch in den Einzelarien brillierten. Bei Chenez natürlich im schmissigsten Highlight des Ganzen gleich zu Beginn („Mea tomenta, properate!“), als er im Besitz seiner weichen, jugendliche Farbigkeit und leichtere Falsettkraft habenden Stimme besonders im höhergesetzten, koloraturaufgedrehten Dacapo den inneren Kampf Petrus' Schuldgefühle stärker nach außen kehrte. Bei Lys der aus Treue, Frömmigkeit und späterer Trosthoffnung gefasste Entschluss Maria Magdalenas („Semper fida“), der in allumfassender Kulmination persönlichen Geschmacks vibratolose Tonentwicklungen zu Gipfeln geschmeidig umarmenden, stimmfülligeren Seelenbalsams machte, der im Vergessen des Moments bei dieser gesungenen Einstellung für die Ewigkeit beinahe selbst zu Tränen rührte. Und der im Miserere weiter in unabschlagender Schönheit um Güte bat.
In höchsten Genussempfindungen suhlte sich mein Ohr zudem bei den klagenden Vorträgen Maria Jacobis und Salomes. Darin legte Erstgenannte durch die bestechende Betonung, Artikulation, Technik, textlich-diktionale und musikalisch effektvolle Ästhetik Raffaela Milanesis eine äußerst leidenschaftliche Psyche an den Tag, die sich in der Psalmvertonung in opferungsvoller Lebhaftigkeit mit phänomenaler Eloquenz und ebensolchem Übermitllungsvermögen manifestierte, während zweiterwähnte Mitgrübelnde als Stimme von Anstand und weitblickend-reflektierter, ritueller Vernunft auftrat. Sonja Runje tat dies durch ihren ausgewogenen Alt voller Deutlichkeit, Stilgewandtheit, angenehmer Herzlich- und künstlerischer Vorzüglichkeit, der sich in so betörender Tiefe schließlich dem Urteil Gottes anbot, dem meines in hier in entschuldbarer Anmaßung der Segen der vokalen Vollkommenheit folgen musste. Mit theatralischer und dynamischer Aufmerksamkeit sowie ausgesprochener Akzent- und Affektfreudigkeit, die bei der Hofkapelle München unter Lotter fließend ineinanderglitten, wandelte das Orchester die weinend reinigenden Klärungen in existenzielle Auseinandersetzungswallungen und bewährte sich selbst erneut als zuverlässiger Sachwalter Hasses fast unübertrefflicher Meisterschaft.