In dieser Saison treffe ich auffällig häufig auf mitunter prägende, zumindest offenbar gut im Gedächtnis gebliebene musikalische Erinnerungen aus den letzten sieben bis zwölf Jahren. So auch beim Klangvokal-Konzert mit Leonardo García-Alarcón, der mit seiner 20-jähriges Bestehen feiernden Cappella Mediterranea seit den Falvetti-Aufführungen in Dortmund 2014 und 2016 zu den dortigen absoluten Publikumslieblingen zählt. Mit Falvettis Oratorien warfen er und seine künstlerischen Mitstreiter einen Blick auf die Barockmusik Siziliens, die sie ihrem Ensemblenamen getreu ebenfalls 2014 ausweiteten auf weitere Regionen Süditaliens und Spaniens – zum Programm Amore Siciliano, das ich eben in jenem Jahr erstmals digital hörte, 2023 dann neu eingespielt und 2024 veröffentlicht wurde.

<i>Amore Siciliano</i> &copy; Celine Spitzner
Amore Siciliano
© Celine Spitzner

In den Musikarchiven der St-Johns-Co-Cathedral in Valletta und der St Paul’s Cathedral in Mdina, die ich jeweils bei unvergesslichen Aufenthalten in Malta besuchen durfte, bediente sich García-Alarcón dafür einiger zahlreich schlummernder Sammlungen profaner Madrigale und neapolitanischer Kantaten und kombinierte sie mit eigens komponierter Fuge und gemeinsam mit seinem Lautenisten Quito Gato ineinandergreifend arrangierten Versionen süditalienischer, populär-volkstümlicher, mediterraner Tanzschlager zu einem nächtlichen Singspiel-Pasticcio basierend auf dem berüchtigten kalabrischen Ohrwurm Canzone di Cecilia. In ihm muss Donna Isabella, Frau des mit Santino befreundeten Kapitäns Don Lidio, mitansehen, wie Cecilia versucht, inhaftierten Verlobten Giuseppe zu befreien, wofür der Angerufene die Petentin in schockverliebtem Begehr für sich verlangt. Bricht dieser dann nach Cecilias Einlassen darauf seinen Teil der Abmachung, steht Giuseppe der Tod bevor, woraufhin auch Cecilia an Trauer zugrunde geht.

Als geläufigster Name anzutreffender Komponisten in diesem leicht Puccinis viel späterer Tosca ähnelnden Drama fungierte diesjährig großer Jubilar, der Sizilianer Alessandro Scarlatti. Heute im Vergleich dazu weniger bekannte Sigismondo D’India und Cataldo Amodei standen ebenso Werkpate; aber bei Notensatzherren wie Corrado Bonfiglio, Pasquale Carrozza, Tommaso Carapella, Vincenzo Tozzi, Alfonso Maria de‘ Liguori und Giovanni Trabaci oder den spanischen Kapazitäten José Marín und Diego Fernández de Huete (mit Ausnahme Santiago de Murcias) dürfte nicht nur ich mich an den Tag zurückdenken, als just erstmals Michelangelo Falvetti in der Internetsuchleiste auftauchte, um mehr von ihm zu erfahren. Oder?

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Amore Siciliano
© Celine Spitzner

In Herz und Bewusstsein bleibt jedenfalls auch diese Dortmunder Amore Siciliano, die die Cappella Mediterranea mit dem ihr eigenen, nun mal rhythmisch im Blut liegenden, generell südländisch-talentierten Idiom in ein intensives und handlungsbasiert wahnsinnsaustreibendes Melos- und Tragikspektakel verwandelte. Dabei verströmte sie sowohl mit García-Alarcóns verzierungs- und registerlodernden Truhenorgel als auch Lauten, Gitarre, Barockharfe, Bassgambe, Kontrabass, Dulzian, Geige, Cornetto, Sopran-, Alt- und Tenorblockflöten typisch phrasierungsphonetische, affektsatte, eingängige Identifikationsdüfte, die die Sinne schärften für die Wolke aus Theatralik und Temperament. Eine Theatralik, die harmonisch und sprachlich-lautmalerisch die exzentrischen Schmerzstufen der Liebe betrat und die ritornelligen Verbindungselemente zu weiteren, feurigen wie ergreifenden Stimmungsableitungen formte; und ein Temperament, das – teils in der Natur der Sache liegend – neben der sinnlichen, beherzten Fesselung ganz nüchtern-technisch dazu führte, zornige Rezitativ-Akkorde der Bassgruppe nicht allzu synchron oder die chorischen Vokaleinsätze, vor allem im ersten der zwei Akte, durch meistens tenoralen Übereifer mit Einbußen bei Homogenität und Intonation vorzutragen.

Ana Vieira Leite transportierte Cecilias Verzweiflung und Verwundung dabei mit solch weichklanglichen, emotional berührend stimmgeführten Reizen, dass sie in jedem einsamen Lamento verlässlich den Effekt auslösten, dem erzeugten Mitleid, gleich jenem gegenüber ehrhaftem Giuseppe (Matteo Bellotto mit angenehmem, geradlinigem Bass), mit einer trostfesten Umarmung begegnen zu wollen. Jenen Solidarisierungsdrang verspürte und übermittelte auch Mariana Flores als Donna Isabella, die deren Wut und niederschmetternde Betrugserfahrung trotz Verständniseinschränkungen mit der ihr stets einnehmenden, in den Bann ziehenden Präsenz und ihrem glühenden oder puristischen, warm schneidenden und ausdrucksvollen Sopran verkörperte. Brachte Valerio Contaldos inniger Tenor die strenge, passende Artikulation und gleißende Farbe für die gerissene Härte, allerdings zugleich schmeichelnde Geständigkeit im Liebesrausch Don Lidios mit, beeindruckte im Aufgebot der Cappella Mediterranea auch Léo Ferniques virtuos-flexibler, geschmeidiger, volumenreicher Counter als kommentierender Santino.

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