Bevor sich Sébastien Daucé kurz darauf wieder besondere Mühe machte, vermeintliche Musik der Krönungsfeierlichkeiten Ludwigs XIV. in der Kathedrale zu Reims zusammenzustellen, tat er das 2015 in anderem Fall anlässlich des 300. Todestags des französischen Königs. Er rekonstruierte in mehrjähriger Kompositionsarbeit sowohl bei Philidor verloren gegangene Stimmen der danses als auch die entrées und in freier Weise angenommene – wenngleich ältere – airs, um einen Zirkus des kulturellen wie politischen Momentums damaliger Zeit annähernd wieder aufleben zu lassen. Die Rede ist von der von Kardinal Mazarin aufgefahrenen propagandistischen Bühnenshow, in der Ludwig als fünfzehnjähriger Tänzer im am 23. Februar 1653 im Louvre aufgeführten Ballet Royal de la Nuit die harmonisierende Ordre verkörperte, dem nächtlichen Hexensabbat sowie Sodom und Gomorrha allerhand gesellschaftsschichtensprengender Figuren und Götter ein Ende zu bereiten. In der um ein Drittel gekürzten Konzertfassung (Concert Royal) mit französischer Hofmusik eben weit überwiegend anonymer Autorenschaft, de Cambeforts, Lamberts, Constantins und Boëssets sowie davor und danach neu erschienenen, äußerst beliebten italienischen Opernmosaiken Cavallis (Ercole amante) und Rossis (Orfeo) durfte man dieses Spektakel im BOZAR des Brüsseler Machtzentrums erneut bestaunen.

Dessen Henry-Le-Bœuf-Saal wurde dazu in unterschiedliche Lichter getaucht, um dem Konzertanten Anknüpfungspunkte der Szenerie zu verleihen, die schließlich die viergeteilten zwölf Stunden der Dunkelheit (genannt Wachen) samt abschließendem Grand Ballet und das damit einhergehende Treiben in Venus' und Junos Verständnis von Liebe umfasst. Es beginnt zunächst gesittet mit der Heimkehr der Stadt- und Landbevölkerung (erste Wache), deren Großteil später in der dafür vornehmlich vorgesehenen Zeit den Schlaf der Gerechten schläft, der in unterschiedlichen Formen der Träume auftritt (vierte Wache). Die Allegorie des Schlafs ist Unterstützerin Junos, treue Gemahlin des Götterkönigs, der wiederum von Venus' Sohn Amor zum außerehelichen Liebesspiel mit Alkmene beschossen wurde, aus dem Herkules hervorging – eine Geschichte, die die zweite und dritte Wache anschneiden. Daher versucht Juno, alles zu unterbinden, was Venus mit göttlichem Zauber und dem Köcher Amors in verrucht-lüsternder Symbolik der Nacht anrichtet. Beispiel dafür geben Venus' Ball des Vergnügens (zweite Wache), die Liebe von Mondgöttin Luna zu Endymion, Deianeiras Abführ gegenüber Herkules und das Spuken finsterer Gestalten (dritte Wache) sowie das Schicksal Eurydikes (vierte Wache).
So mythologisch abstrakt sowie durch Allegorien und Figurenanzahl undurchsichtig alles klingt, so griffig, plastisch, verständlich genau und schlafwandlerisch sicher wie betörend war das aufgefahrene Aufgebot Daucés Ensemble Correspondances. Instrumental erwies sich das stehende Orchester (hohe und mittlere Streicher fast ausnahmslos in Matteis-Haltung) in seinen knackig-sehnigen, schmissigen Tempokorsetten als wahrgewordener Traum an majestätisch, spritzig, grazil und akkurat einnehmender Ton-, Phrasierungs-, Kontrast- und Homogenitätspracht. Besondere Effekte steuerten neben den erwähnten, zugig, höchst ansprechenden Streichern mit der Schar an Gamben und Basses de viole (im Continuo mit Cembalo, Erzlaute und vereinzelt Daucés Orgelpositiv) die Bläser sowie das Schlagwerk bei. Ins Schwärmen und Tanzen kam man dort bei der Registerreihe der Blockflöten, dem Cornetto, den französischen Oboen, der Taille, dem Fagott, dem Tenorsackbut und – hier auch im unterhaltenden und eingeschüchterten Stillstehen – Sylvain Fabres Natur-Stimmungskasten aus Militär- und Basstrommel, Tambourin, Triangel, kleiner Glockentrias, Cymbal, Windmaschine- und Pfeife, Vogelmacher, Donnerblech, Ratsche und Kastagnetten. Als Hingucker und -hörer der ganzen illuster farbigen Besetzung erwies sich allerdings ein nicht aufgeführtes dickhölzernes Kurzrohr-Instrument, deren beruhigende Sinuswellen Tenoroboist (zugleich zweites Fagott) Krzysztof Lewandowski als göttliche Stimme des Schlafs ausstieß und hier damit leben muss, von mir als Strumentino di sonno benannt zu werden.
Vokal hinterließ das Ensemble ebenfalls traumhaften Eindruck, als die aus den Reihen des Chores nach vorne tretenden Solisten in die unterschiedlichsten Rollen schlüpften. Erinnert man sich alltäglich meistens nicht mehr an die im Unterbewusstsein spielenden Reime im Schlaf, werden die gesungenen Verse jener doch haften bleiben. Allen voran die fazsinierenden Récits mit anschließender Air (Nacht: David Tricou, Stunden: Marielou Jacquard, Venus: Caroline Bardot, drei Grazien: Caroline Weynants, Marie Frédérique Girod, Maud Haering, Mond: Blandine de Sansal, Schlaf und Aura: Etienne Bazola, Stille: Bardot, Cintia und Eurydike: Weynants), die genauso warm, geschmeidig, elegant und zart einlullend oder bei Juno temperamentvoll aufgebracht (Ilektra Platiopoulou) waren wie die kopfkissenweichen Stimmen der hypnotisierenden, hinreißend vertrauensvoll wiegenden Sandmänner (Antonin Rondepierre, Bazola, Nicolas Brooymans). Auch der Chor trat dann in seiner Gesamtheit vor das Orchester, um französisch und italienisch wunderbar kräftig und strahlend die rhythmisch ansteckenden, theatralisch-aufrappelnden Huldigungs- und Feier-Tutti einzubringen. Letzteren zum Aufgang der Sonne durch Ludwig in der dazu wiederholt umgewandelten Ciaccona-Aria „All'impero d'amore“, mit der ich überwältigt selbst in die Nacht Brüssels entlassen wurde.