Zwar schloss sich für Christophe Rousset mit seinen Talens Lyriques zusammen mit dem Chœur de Chambre de Namur bereits mit Atys ein Kreis, hatte er in der legendären Produktion William Christies 1987 den Cembalo- und Assistentenpart der Arts Florissants für eine dieser markanten Wiedergeburtsstunden französischer Barockoper übernommen, doch eben noch nicht die Lully-Operngesamteinspielung. Dafür stehen zwei weitere Werke im persönlichen Katalog an: Cadmus et Hermione, Lullys großer Erstling, der im Januar 2026 im Konzert folgen wird; und die bereits von Niquet aufgenommene Proserpine, das ausgedehnteste, 1680 in Stil und Effektdimensionen weiterentwickelte Stück, mit dem es diesen Sommer nun auf Vorstellungs-Tournee ging. Station dabei diesmal neben obligatorischen Versailles und Wien auch die Heimstätte des Chores in der Grand Manège der wallonischen Hauptstadt zu deren ureigenem Festival Musical de Namur.
Dazu hatte Maître Rousset, aufgesplittet zwischen zweitem (oder erstem Récit-) Cembalo und Dirigat, wieder einmal das erlesene Who is Who der französischfähigen Barockszene um sich geschart, um Philippe Quinaults und Lullys göttliche Friedensverhandlungen zwischen den sphärenwandelnden Jupiter, Pluto, Ceres, Proserpina & Co aus Ovids Metamorphosen, freilich – wie üblich – in Anspielung und Projektion auf Ludwig XIV. und seine Mätresse Marquise de Montespan in instrumental verlockender, vokal überwiegend, aber nicht immer völlig einheitlich ausgeprägt emotive Diktion zum Leben zu erwecken. Abseits des nicht anders zu erwartend in Fleisch und Blut übergegangenen, in Dynamik, Griffigkeit, Eloquenz und Mitgefühl bestechenden Expertentums des Chœur de Chambre als jeweiliges Gefolge der vertrackten Gottheiten, widerstreitenden Allegorien, nymphischen Beiständler und sizilianischen Nachrichtenempfänger stellten dabei vier solistische Hauptcharaktere die von Rousset angekündigte und geforderte dramatische Präsenz besonders eindrucksvoll heraus.
Da war – in chronologischer Reihenfolge ihrer Erscheinung – zunächst Sopranistin Ambroisine Bré, die als prologisch von der Zwietracht eingekerkerter, natürlich vom Sieg befreiter Frieden, dann eigentlich aufseherisch bestellte und liebespraktisch oft unglücklich belagerte Aréthuse ihrer verzweifelten Lage prägnant „ah!“-betont und generell nachvollziehbar sensibel Ausdruck verlieh. Zweiter Trumpf wie sängerischer und im einläutenden Sieg rollenpassender Triumph konnte mit Marie Lys verpflichtet werden, deren edles Fundament aus Klarheit und Verständlichkeit einerseits sowie durch wirkungsreichen Lageneinsatz theatralisches Vermögen als tragisch personifizierte Verhandlungsmasse Proserpine andererseits wunderbar zum Vorschein kam.

Dann gab es mit Laurence Kilsby einen vom hohen, virilen, zugleich einfühlsamen Timbre sowohl herausragend zum Repertoire an sich als auch speziell zum Phrasierungs- und Artikulationsgebot passenden Tenor, der den Aréthuse verlangenden Alphée mit Verve und – wie bei allen Genannten – in duett-blendender, metrenwechselnder Vervollkommnung zu identifikatorischer Blüte brachte. Schließlich war es Olivier Gourdys tessiturbehänder Bass, der als willensstarker, kernig-charmanter, im Dialog mit Proserpine feingliedriger, erwartungseiserner Unterweltregent Pluton dieses deklamatorische und stimmliche Beflissenheitsquartett komplettierte.
Mit Véronique Gens bot Rousset zudem die Grande Dame der (auch speziell barocken) Tragédie auf, die als (sich) sorgende Mutter und Mätresse Cérès die Niedergeschlagenheit und folgende Rage ob Tochter-Entführung nicht so explizit expressiv eingebettet akzentuierte, zum Kompromiss zwischen Jupiter und Pluto über Proserpines 50/50-Zeit mit Maman und aufoktroyiertem Mann über ihren Kopf hinweg jedoch intensivere Ansätze verfolgte. Dabei nahm sie die Befehle stets mit weicher, stilistisch erfahrener, rhythmisch konturierter, somit noch verständlicherer Mezzo-Distinguiertheit an.
Erfüllte Nick Pritchard seine Pflicht als Götterbote Mercure mit sehr geschmeidigem und angenehmen Tenor, präsentierte sich Apolline Raï-Westphal mit trockenerem, aber umso deutlicherem Sopran als liebliche, eindrücklich nicht helfen könnende Vertraute Cyané beziehungsweise Glückseligkeit. Legte Bariton Jean-Sébastien Bou die Zwietracht in derberer Lautstärke naturgemäß ungehobelter an, fügte er sich – wie Kollege David Witczak in den kleinen Rollen als Jupiter und Proserpines Vertrauter – in der Nebenpartie des Flussgotts Crinise souverän ein, wohingegen warmer, hellerer Vokalpartner Olivier Cesarini zu stimmschmächtig blieb, um der Figur des im Vergleich zum Rivalen Alphée gewiss blasseren, sich geschlagen gebenden Ascalaphe als Handlanger Plutos größere Aufmerksamkeit zu schenken.
Abgesehen von Balanceerschwernissen bei Letzterem, steckte dahingehend die riesige, formidabel eingehaltene Erfahrung in den sprichwörtlichen Knochen des effizient leitenden Roussets und seiner dynamischen, phrasierungsbeispielhaften Talens Lyriques, die Lullys Musik in ein effekt- und affektrigides, äußerst ansehnliches Korsett schnürten. Dieses ließ allerdings genügend Luft und selbstverständlich zwischendurch den Ätna speien, damit sich die Bandbreite gelassen-eleganter, zärtlicher, festlich-royaler, ritornellzackiger, dramatischer, einfach emphatischer Hingabe kontrastreich und flexibel entfaltete. Für eine Proserpine in Namur, die mit historisch-konzertanter Genauigkeit zufällig auch heutige Herausforderungen, Welten, dicke Bretter und metaphorische Kröten anschaulich machte.