Mahlers Sechste wird von der Musikwissenschaft oft als seine „klassische“ Symphonie bezeichnet, weil sie aus den vier Satzcharakteren besteht, die seit Haydn eine Symphonie ausmachen. Mahlers Partitur enthält aber auch etliche Anweisungen – der Art „wie gepeitscht“ u. ä. –, die sich einer klassischen Auffassung von einer Symphonie grundlegend widersetzen. Diesem Widerspruch stellten sich Iván Fischer und die fabelhaft aufgelegte Staatskapelle Berlin in ihrer Aufführung dieses Werkes und ließen die Modernität der Partitur hinter der strengen Fassade ganz ungeschützt hervortreten.

Dass Iván Fischers Debüt am Pult der Staatskapelle so gut gelang, lag zunächst daran, dass der Gründer der ungarischen Gustav-Mahler-Gesellschaft sein Dirigat ganz der vom Komponisten geforderten Deutlichkeit anvertraute und das gesamte Orchester seine Kraft auf die Verwirklichung dieses Komponistenwunsches setzte. Mahler schwebte ein Künstler am Pult vor, d. h. ein Dirigent, der nachdenkt und nachempfindet, was er sich als Komponist dachte, als er sein Werk geschaffen hat. Fischer erfüllte ihm dies auf eine so überzeugende Weise, dass es kleinlich wäre, etwa zu monieren, dass die unerbittlichen, dem leitmotivartigen Dur-Moll-Siegel im Kopfsatz nicht allein vorausgehenden, sondern ihm auch unterlegten Paukenschläge nur im Forte, nicht im Fortissimo zu spielen wären wie unter seiner Leitung. Wer dies beanstandete, stellte Pedanterie vor die Art lebendiger Nachschöpfung, die sich Mahler selbst, wenn er Werke anderer Komponisten dirigierte, auch grundsätzlich gestattete. Mahler wünschte sich von einem Dirigenten seiner Symphonien, dass er es versteht, seine Themen musikalisch tragfähig zu phrasieren und die Motive so zu deklamieren, dass sie beredt werden. Dies beherzigend, entlockte Fischer mit seiner sprechend-lebhaften Zeichengebung dem Orchester einen großen Variantenreichtum bei der Gestaltung der motivischen Gestalten, was nicht allein oberflächlich für Abwechslung sorgte, sondern vor allem hörbar machte, dass miteinander vordergründig kontrastierende Themen in ihrer Tiefenstruktur voneinander abgeleitet sind. Vor allem aber gelang in dieser Aufführung eine beispielhaft zu nennende Umsetzung jener funktionalen Differenzierung einer an Bach geschulten Orchesterpolyphonie, die Mahlers symphonisches Schaffen ab der Fünften auszeichnet. In ihr herrscht keine Gleichberechtigung der Stimmen vor, sondern der stete Wechsel in der Hierarchie aus thematisch führender Stimme, den ihr untergeordneten Nebenstimmen und der figurativen Begleitung.
Im Unterschied zu anderen großen Dirigenten hat Fischer in seiner Darbietung der Sechsten Symphonie nicht von vorne herein emphatisch „Nein“ gesagt und die Aufführung stringent auf ihren tragischen Ausgang hin ausgerichtet, weil dieser auch keineswegs von Beginn an feststeht. Lange wusste Fischer den Kampf klug zwischen gutem und schlechtem Ende auf der Kippe zu halten. Insgesamt viermal hat er den Satz in die auffahrende Geste des Anfangs zurückfallen zu lassen, bevor er beim letzten Mal der Symphonie endgültig ihre Aufhellung nach Dur zu verweigern hat. Schritt für Schritt ließ Fischer das Finale auf diese Ausweglosigkeit zusteuern, indem er die Themen so übereinander türmte, dass die sich gegen die Schicksalsschläge aufbäumende Musik schließlich doch unter diesen Massen zusammenbrechen musste, was die Katastrophe am Ende zwingend herbeiführte.