Das erlebt man auch nicht allzu oft: Zehn Jahre ist es her, dass Vincent Dumestre und sein OrchesterLe Poème Harmonique im Brüsseler Bozar Purcells Dido and Aeneas konzertant aufführten, um nun mit demselben Werk an diese belgische Spielstätte zurückzukehren. Mit Ana Quintans als Belinda und Caroline Meng als Erste Hexe befanden sich außerdem zwei Solistinnen von 2015 wieder an Bord der Vokalbesetzung. Gewiss, gemeinsam mit heißgeliebtem Dauerbrenner Le Carnaval baroque, ebenfalls eine sehr besondere Kombination von Tragikomödie und Erscheinungsform dieses genreübergreifenden Zeitalters, ist die Produktion Le Poème Harmoniques eine seiner meistgeschätzten Nummern.

Die, mit denen es in seiner Geschichte und DNA der Vorstellung seltensten französischen und italienischen Frühbarocks erstmals selbst einen Schritt auf das Feld eines bekannten, von einem englischen Opernkomponisten verfassten Stücks gemacht hatte. Und in das bei Dumestre hervorragend passende Zwischenspiele Purcells Collection of Ayres composed for the theatre (zudem ein „Tempest Curtain Tune“ Matthew Lockes) zur gedanklichen Stütze verlorengegangener oder heute nicht gesicherter Purcell-Teile Einzug in die mit knapp 65 Minuten minimal abendfüllendere Partitur des Ensembles hielten.
Sie brachten einerseits – zusätzlich zu den Phrasierungen – den französischen Bezug englischer Barockklänge hervor, orientierten sich mit den typisch eingebauten Blockflöten und Taille an späteren Herangehensweisen bei Purcell-Opern und hoben andererseits weitere Spezifika der britischen Musikgeschichte hervor. Vor allem durch das Continuo, selbst wenn dort ausgerechnet der purcellfremde Kontrabass fehl am Platz war: mit Virginal als historische Hommage an William Byrd und Orlando Gibbons sowie die flämisch-englische Schule; und mit ausgesprochen kräftigen Gitarren beziehungsweise Theorben, die Dumestres eigenes Instrument auf knackigen, mitunter schon ungewöhnliche Rhythmik und dramatisches wie intimes Flair verleihenden sowie die englische Tradition John Dowlands hochgehaltenen Schild hievten.
Das allein schon grandiose Wirkung erzielend, nahm sich Dumestre aber noch weitere, von szenischen Erfahrungen gespeiste Freiheiten in der halbszenischen Dido-Version im Bozar heraus, um sie zur nächsten, eben wiederholten, denkwürdigen Erinnerung an Ort und Ensemble zu machen. So wurde die Bühne (und kurzzeitig das hintere, mittlere Auditorium, als die Holzbläser dort auf sich aufmerksam machten) als steter Hort lebendigen Musiktheaters ausgenutzt, das Vokale und Instrumentale stimmungsgerecht zu präsentieren. Dafür durfte Schlagwerker Sylvain Fabre neben normaler historischer Trommel zu Lichtblitzen von Gewitter und Höhlenfeuer der Hexen im zweiten Akt Basstrommel und Windmacher rühren, in Ermangelung eines Donnerblechs manchmal auf ein wirklich krudes Becken schlagen, knapp Kastagnetten klackern und Cymbal pingen lassen. Multiinstrumentalisten in den Reihen des LPH, wurde aus dem Duo an Gitarre und Theorbe ein neckisches, dynamisch extrem gespanntes Quartett mit zusätzlich zupfendem Cello, das die in den ersten Akt inkludierte Chacony Z. 628 – wie sonst Geigen, Bratschen und Bläser sowieso die ganze Zeit in wunderbar phrasierend mitgehender Weise für die zahllosen folkloristischen Purcell-Reize – im Stehen darbot.
Und der von mitagierendem Jean-Sébastien Beauvais einstudierte LPH-Chor durfte als Hexen- oder Seemannsclique Platz hinter dem Orchester und damit seine höfische, artikulatorisch strengere Rolle als mitfühlende Schar Didos verlassen und zum Bühnenrand tollen. Voll beweglich war er generell, folgten die Stimmen präzise eingeschworen und gewohnt Dumestres unverändert extravaganten An- und Abschwellern sowie starken Tempokontrasten, die der Dirigent mal schlicht, mal mit emotionalerer Geste samt Verlassen seiner Pultposition anzeigte. In seinen Reihen auch der leichte, weiche Igor Bouin, der neben der Rolle als Matrose ebenfalls die Figur der Zauberin ausfüllte, so wie es Noten des Prompt Book von 1706 suggerieren. Zudem mit Marie Théoleyre die lieblich-elanvolle Second Woman, mit erhoben unter den Orgelpfeifen stehender Fernando Escalona der elegant-mahnende Spirit und mit Anouk Defontenay die Zweite Hexe, die mit Meng ein ausdrucksversiertes, schillerndes, stimmlich höchst angenehmes Paar bildete.
Purcells Stilistik und Idiom traf Quintans von allen Beteiligten als reine, klare, umtriebige Belinda am eloquentesten, verständlichsten, einprägsamsten auf den Kopf. Und schließlich umgab Adèle Charvets Dido und Jean-Christophe Lanièces Aeneas von Anfang bis Ende eine tragik-theatralische Aura, der man gebannt folgte. Bei ihr jene der stolzen, edlen Karthago-Königin auf der registerfarbengewandten Suche nach Liebe und Erlösung von herrschender Einsamkeitsbürde, die in Charvets konzentriertem, expressiv variationsreichem, aufgebautem Odem-Bye-Bye nach Augenhöhenstreit gipfelte. Bei ihm solche des göttlich und mit Auftrags- oder Herzerfüllung Beladenen, von der eine kräftige, sonore Stimmstatur mit Fähigkeit zur lichten Baritonhöhe zeugte.
Fast wie Dumestres Dynamikweiten entlud sich beim Publikum aus der trauernden Stille nach „Dido’s Lament“ und der berührenden Anteilnahme des Chores ein sofortiger, lauter Bravo-Applaus im ausverkauften Saal, der nicht allein Eindruck und Zufriedenheit dokumentierte, sondern zugleich Appell an die Verantwortlichen war, nicht zehn Jahre bis zur abermaligen Sternstunde im Bozar zu warten.