Alljährlich treffen auf dem Lucerne Festival in der Schweiz die weltbesten Orchester zusammen. Selbstredend, dass in diesem Sommer auch das US-amerikanische Cleveland Orchestra als Teil seiner Europatournee am Vierwaldstättersee gastiert. Ihr seit den 1960er Jahren nachgesagter Claim „Second to none“ – was im besten Sinne mit „allen überlegen“ zu übersetzen ist – unterstreicht den hohen idealistischen Selbstanspruch des Klangkörpers. Auch aufgrund unzähliger Referenzaufnahmen der Komponisten der Wiener Klassik wurde dem Cleveland Orchestra seit jeher zugeschrieben, durch einen besonders europäischen Charakter geprägt zu sein. Es ist somit nur folgerichtig, dass sie auf einer Orchestertournee unter der Leitung ihres Music Directors Franz Welser-Möst zumeist auch ein Werk eines deutschsprachigen Komponisten darbieten.
Das Klavierkonzert in a-Moll von Robert Schumann interpretierte der isländische Pianist Víkingur Ólafsson. Das Werk gilt nicht nur als beliebtestes seiner Gattung, sondern auch als erfolgreichstes Orchesterstück Schumanns überhaupt. Ólafsson und Welser-Möst arbeiteten kongenial zahlreiche Eigenarten und oft verkannte Feinheiten der Komposition heraus, beispielsweise die ineinandergreifenden Überleitungen im ersten Satz: Ólafsson nahm sich in seinem delikaten Spiel nach dem Hauptthema gekonnt zurück und verlor sich bewusst in den Klängen des Orchesters – Schumann hat die Klavierstimme im Kopfsatz stellenweise das Orchester begleitend instrumentiert – während Welser-Möst kontradiktorisch für wenige Takte die Führung übernahm. Es entstand eine klanglich formvollendete, brillant ausbalancierte Solisten/Orchester-Koordination, welche auch bei härterem Anschlag des Pianisten den liedhaften Werkcharakter noch beibehaltend, die Aufführung in ihre ganz eigene Liga katapultierte – eben „second to none“!
Ólafsson verabschiedete sich mit einer berührenden Zugabe: dem Andante aus der Orgelsonate Nr. 4 in E-Moll, BWV528 von Johann Sebastian Bach.

Ähnlich wie das Klavierkonzert, gilt auch die Symphonie Nr. 5 in e-Moll von Tschaikowsky als eines der meistgespielten Werke der Konzertliteratur. Wie kaum ein anderes Werk ist dieses in seinem Ausdruck zutiefst in der russischen Tradition verankert. Böse Zungen unterstellen dem Dirigenten Franz Welser-Möst, gelegentlich etwas behäbig oder angespannt zu musizieren. Der Musik Tschaikowskys kommt Welser-Mösts besonnene Orchesterführung – welche gänzlich frei von romantischer Verklärung oder Effekthascherei vielmehr durch Präzision und Handwerk imponierte – umso mehr zugute.
Durch das verstetigte Vorandringen, dabei die Musik für sich selbst sprechen lassen, legte der Dirigent all das Erschütternde und Aufwühlende der Symphonie frei. Welser-Möst gelang es, seine Emotionen über weite Strecken zu zügeln, um zum Existenziellen der Partitur hervorzudringen. Er erfasste sogleich mit der behutsam einleitenden Klarinette die Grundstimmung des Werkes, referenzierte diese noch in der Leichtigkeit der Klangsprache Schumanns, emanzipierte sich jedoch mit jedem Takt hin zu einem reißenden Klanggefüge, welches das Publikum in seinen Bann sog.
Das Cleveland Orchestra demonstrierte mit vollkommen geschlossenem, verdichteten Klang und absoluter Präzision eine exzeptionelle Orchesterdisziplin. Der normalerweise so kalkulierend anmutende Welser-Möst wurde in der Coda schließlich selbst überwältigt: In spektakulärem Klangvolumen, gleich einer Hymne des persönlichen Triumphs für den Dirigenten, entlud sich das Schicksalsmotiv als erschütterndes Ereignis zum letzten Mal.
Welser-Möst fand die emotionale Überhöhung dieser schicksalsbeladenen Tschaikowsky-Symphonie in einer Zugabe von Richard Wagner: Isoldes Verklärung in einer pulsierenden, den Klimax herbeisehenden, ihm wahrlich entgegenströmenden Orchesterinterpretation.