Vierundzwanzig Tänzerinnen schreiten nach und nach auf einer Schräge von rechts oben nach links unten, um sich dann auf der Bühne zum weiblichen Corps zu versammeln. Endlos lang scheint das zu dauern, und doch knistert dabei Spannung. Altmeister Marius Petipa hat in seiner Choreographie der Bayadère demonstriert, welche Schönheit das nicht zuletzt von ihm geschaffene klassische Ballett entfalten kann, und zugleich doch weit mehr als nur reine Ästhetik auf die Bühne gebracht.
Denn die vierundzwanzig Tänzerinnen vollführen ihre Auftritte absolut gleichförmig, ohne jede individuelle Abweichung, schließlich sind sie Bayadèren in einem Opiumtraum, in dem der Held des Balletts Solor einer verstorbenen Tempeltänzerin nachsinnt. Erst wenn seine geliebte Nikija auftritt und sich in seinem Wunschtraum mit ihm im Tanz vereint, entsteht singuläre Individualität – von Elisa Badenes meisterhaft wie stets verkörpert: Federleicht wirkt sie, wenn Solor (Adhona y Soares da Silva) sie trägt, schwerelos, wenn sie sich vielfach dreht, raffinierte Tanzschritte auf Spitze absolviert. Das alles ist wahrlich traumhaft, nur die vierundzwanzig Partnerinnen dieser Bayadère schafften es bei der Premiere nicht unbedingt, das schwerelos Gleiche auf die Bühne zu bringen; da winkelt sich jedes Bein ein wenig anders ab – so hätte sich Petipa das nicht vorgestellt.
Es war ein guter Einfall, dieses Stück an den Anfang des Abends zu setzen. Als Tamas Detrich, Direktor des Stuttgarter Balletts, vor fünf Jahren das Stück als Auftakt zu seiner Amtszeit ins Programm nahm, war es noch umrahmt von dem Neoklassiker George Balanchine und dem zu Recht immer noch als Stuttgarter Hausgott und Schöpfer des Stuttgarter Ballettwunders verehrten John Cranko. Denn nach diesem Entree mit dem Klassiker Petipa an diesem neuen Balettabend kann der Zuschauer nachvollziehen, welche Wirkung diese klassische Balletttradition hatte, und das bis ins 21. Jahrhundert hinein.
Als im Jahr 2016 – hundertvierzig Jahre nach Petipas Bayadère – William Forsythe sich nach einigen Jahren der Pause wieder dem Ballett widmete, brachte er zwar nicht ganz so viele Tänzerinnen auf die Bühne wie Petipa, aber doch eine veritable Gruppe, und auch bei ihm ordnen sich alle in Reihen. Doch während bei Petipa die Reihen ordentlich symmetrisch beibehalten werden, lösen sie sich bei Forsythes Blake Works I geradezu spielerisch auf. Alle Akteure scheinen zwar wie bei Petipa identisch – alle in blaue Gewänder gekleidet – doch immer wieder entwickeln sie bei ihm ein Eigenleben, tanzen sie buchstäblich aus der Reihe. Und auch ihre Tanzbewegungen scheinen sich streng am klassischen Vorbild zu orientieren, entwickeln aber eine ganz eigene Ästhetik. Da werden mal Hüften abgewinkelt, Arme verschränkt, mal scheinen sich einige Tänzer zu entspannen, als hätten sie bei einer Probe gerade nichts zu tun – Forsythe spielte mit diesen sieben kurzen Stücken zu Songs von James Blake mit dem großen Ballettvorbild und schuf doch etwas ganz eigenes.
Alles scheint hier anders, als man es bis dahin bei Forsythe gewohnt war. Sogar Spitzentanz findet sich, gleichfalls raffiniert gebrochen. Der einstige Ballettrevolutionär als Arabesken- und Spitzenschuh-Fan? Kess eingestreute Dancefloor-Moves, wippende Schritte und Hüften setzen auch im zweiten Stück des sehenswerten Abends Glanzlichter, die Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringen. Sogar so etwas wie Handlung findet sich bei diesem Fanatiker des handlungslosen Balletts, aber auch das nur in kurzen Andeutungen – erkennbar, aber fast verschämt zurückhaltend. Es ist wie das große Meisterwerk eines weisen Choreographen, und Forsythe war da ja auch schon weit über sechzig, erwies sich aber doch mit diesem Stück als jugendlich wie eh und je.

Jugend, Elan, Tempo, Witz – all das findet sich auch bei Uwe Scholz, wie William Forsythe ein „Ziehkind“ von John Cranko, aus dessen Schule ja die ganz Großen des europäischen Balletts des letzten halben Jahrhunderts kamen. 1991, als seine Choreographie The Seventh Symphony zu Beethovens Siebter Symphonie entstand, war das, was er da buchstäblich über die Bühne jagte, modern, und auch heute sorgt es zuverlässig für Begeisterung, zumal wenn die rasante Tanzaktion aus Sprüngen, Läufen, Drehungen und Hebungen so agil realisiert wird wie vom Stuttgarter Ballett. Da fällt es schwer, die beiden Solopartien herauszuheben, obwohl Agnes Su und Jason Reilly sie brillant meistern. Und doch wirkt dieses Stück streckenweise leer, erschöpft sich in rein tänzerischer Akrobatik. Man solle die Finger von Beethoven lassen, warnte Ballettaltmeister Balanchine einmal. Scholz wagte sich an ihn und nahm sich vor, nicht nur jede Wendung der Musik, also deren Geist, in Tanz umzusetzen, sondern fast jede einzelne Note: rasante Hebungen gleich zu Beginn, grelles Licht bei strahlenden Durpassagen, dazu – mit Ausnahme des zweiten Satzes – ein Dauerlächeln bei den Tänzern, das ist des Guten Zuviel.
Auch das kann eine Folge der klassischen Tradition sein. Petipa hat Grandioses angeregt, nicht alles muss ein Jahrhundert nach ihm auch noch befolgt werden. Und das Stuttgarter Ballett hat wieder einmal demonstriert, wie sehr es sich der Tradition verpflichtet fühlt, manchmal mehr, als ihm guttut.