„Warum erst jetzt, mit 65?“, mag man sich schon vor dem späten Tonhalle-Debüt des in Sankt Petersburg geborenen Semyon Bychkov gefragt haben und erst recht stellte sich die Frage am Ende der maßstabsetzenden Aufführungen dieses Abends. Seine Interpretation von Tschaikowskys Vierten Symphonie ließ keine Wünsche offen, und Richard Strauss gehört ohnehin schon lange zu seinem Kernrepertoire.
Die Ruhe nach dem Stimmen – leider spielte sich das Orchester mangels geeingeter Lokalitäten erst kurz vor dem Konzertbeginn auf dem Podium ein, was die Leute im Publikum wohl dazu verleitet sich ihrerseits noch lauter zu unterhalten – währte nur einen Moment. Nach dem kurzen Begrüßungsapplaus hob der auswendig dirigierende Maestro den Taktstock und Strauss' Don Juan mit seiner aufsteigenden Fortissimo-Geste eröffnete das Konzert in einer Lautstärke, die für die vorbelasteten Ohren schon beinahe zu viel war. Es dauerte eine Weile, bis sich das Gehör auf Bychkovs expansive Dynamik eingestellt hatte, danach aber fesselte seine Interpretation in ihrem Schwung, der Dramatik, den flüssigen Tempi und dem expressiven Rubato. Sie war romantisch, aber nie schwülstig, flexibel im Takt und ließ sich Zeit für Schwerpunkte. Die Großformation des Tonhalle-Orchesters zeigte sich in ausgezeichneter Verfassung, vom Schlagwerk, den ausgezeichneten Blech- und Holzbläsern, bis zum dichten, homogenen Streicherklang. Die Solovioline blieb eingebettet, aber dennoch hörbar. Bychkov hatte den Klangkörper nicht nur taktmäßig, agogisch unter Kontrolle, sondern ebenso in der dynamischen Balance. Trotz farbenreicher Dichte blieb der Klang transparent, wo sich die akustischen Vorteile des Saals zeigten. Letztere verhalfen den Blechbläsern zu einem sehr eindrücklichen Auftritt – das Volumen der vier Hörner machte glauben, es seien mindestens doppelt so viele Instrumente beteiligt! Eine durchweg begeisternde Interpretation, in deren Verlauf die Spannung nie nachließ, und die verstehen machte, warum diese Komposition bereits an der Uraufführung für Furore sorgte.
Für Strauss' Burleske nahm der sachlich-bescheiden, unauffällig auftretende Bertrand Chamayou am Flügel Platz. Der erste Eindruck täuschte aber gewaltig. Der Franzose meisterte die horrenden Schwierigkeiten der Soloparts scheinbar spielerisch, er hörte aufmerksam zu und gestaltete das Rubato im engen Kontakt mit Dirigent und Orchester. Dabei blieben die Texturen stets leicht und durchsichtig. Aber auch Strauss' Humor kam nicht zu kurz. Gleichzeitig ließ die Aufführung begreifen, warum von Bülow das Werk für unspielbar hielt. Es ist grotesk nicht nur in seinen technischen Ansprüchen, sondern ebenso ungewohnt-neuartig in der Tonsprache, so den vertrackt aufblitzenden Ausbrüchen, den an Gelächter gemahnenden Akkordkaskaden und darin, was wir heute als so Strauss-typische Motivik und Harmonik erkennen. Ungewohnt ist auch die Ausdrucksbreite bei diesem einsätzigen Werk, spritzig-humorig, dann plötzlich lyrisch-singend oder leise melancholisch, in der Kadenz gelegentlich an Rachmaninow gemahnend. Es ist eine faszinierende Musik, die meisterhaft und souverän dargeboten wurde.