Es ist ganz eindeutig eine Aufführung unter Coronabedigungen: Das Staatsorchester ist stark ausgedünnt, die Musiker sitzen großzügig verteilt auf der Hauptbühne, das Bühnengeschehen beschränkt sich auf den schmalen Streifen der Vorderbühne. „Halbszenisch“ nennt die Bayerische Staatsoper denn auch ihre Produktion, die nun als Livestream zu erleben ist, aber halbherzig ist sie deswegen keineswegs, im Gegenteil. Eine vornehme Hotelhalle kann man natürlich mit großem Bühnenbild und dem Chor als Gästeschar inszenieren, dann hätte man ein Ambiente, in dem man auch den ersten Akt von La traviata spielen könnte. In Tobias Ribitzkis Inszenierung senken sich lediglich einige Kronleuchter vom Bühnenhimmel herab, links vorn steht ein Sessel mit Tisch und Teekanne, links ein Cocktailtischchen mit zwei Stühlen. Aber mehr braucht es auch nicht, um den Eindruck von großer Welt zu evozieren. Theater soll Realität nicht nachahmen, sondern mit dem Zuschauer in der Fantasie erlebbar machen.

Sebastian Kohlhepp, Max Hopp und Julia Kleiter
© Wilfried Hösl

So verzichtet Ribitzki auch darauf, die Geschichte szenisch voll auszuspielen, auch hier begnügt er sich mit Andeutungen, aber stets den genau richtigen, die ausreichen, um den Eindruck der ganzen Geschichte zu erwecken, und viel Geschichte gibt es ja auch nicht zu erzählen: Prinz und Prinzessin sollen nach dem Willen der Eltern heiraten, wollen aber lieber ihrem Herzen folgen, reisen inkognito – und verlieben sich ineinander, wie es sich die Eltern gewünscht und wogegen sie sich innerlich gewehrt hatten. Das entbehrt nicht der Ironie, und so ist sie denn auch das Stilmittel, mit dem Ribitzki alles auf die Bühne bringt. Die Handlung vermittelt in knappen, aber genau gewählten  Worten ein Erzähler, der auch noch das Bühnenbild anschaulich vermittelt, die Dialoge der Hauptfiguren übernimmt und in die Rollen des Hoteldirektors und des Königs schlüpft. Besser als der Schauspieler Max Hopp kann man das nicht mehr machen, der auch noch passabel singen kann und zudem die Texte selbst verfasst hat – mit einer Brillanz und Stilsicherheit sondergleichen. Da wird kaum eine Möglichkeit der Illusionsdurchbrechung ausgelassen. Die Rolle des Königs übernehme er wegen der knappen Kassen der Staatsoper. Er rekurriert auf Erkenntnisse, die „wir“ soeben dem Dialog haben entnehmen können. Wenn der Prinz auftritt, wird er ironisch mit „natürlich Tenor“ eingeführt, und der Eindruck, den er auf die Prinzessin hinterlassen habe, sei tiefer als die Spur ihrer Autoreifen im Waldweg.

Juliana Zara und Max Hopp
© Wilfried Hösl

Aber auch szenisch entwickelt Ribitzki ein Feuerwerk. Für den zweiten Akt – den Lehár nahezu coronatauglich ausschließlich für die beiden Hauptfiguren reserviert hat – verschwinden die Kronleuchter nach oben und ein Alpenfoto sorgt für das Naturambiente der Almhütte. Wenn die beiden jungen Leute die letzten Meter zu ihrer Hütte erklimmen, dann klettern sie von der Zuschauerebene mit Schwung auf die Bühne hinauf.

Und trotzdem wird die Operette nicht lächerlich gemacht. Jeder szenische Einfall dient zugleich der Übermittlung echter Gefühle. Wie Ribitzki das inszeniert, ist meisterhaft. Und schließlich ist für das Gefühl ja auch noch die Musik zuständig, die in dieser auf neunzig Minuten reduzierten Version einen sehr viel größeren Stellenwert als in einer voll ausgespielten Version bekommt. Auch das kleine Orchester entfaltete unter Friedrich Haiders Leitung klangliche Opulenz, weil sie gerade die Nummern benötigen, die Lehár für „seinen“ Tenor Richard Tauber komponiert hat, aber es fehlt auch nicht der nötige Pep für die lateinamerikanische Komponente, schließlich spielt auch noch ein südamerikanischer Gesangsstar eine Rolle im Geschehen. Julia Kleiter hat trotz einer vielleicht etwas schweren Stimme für die Rolle der Prinzessin die nötige Lockerheit und Eleganz und den rhythmischen Schwung, Sebastian Kohlhepp intonierte die großen Klassiker wie das Titellied „Schön ist die Welt“ oder „Liebling glaub an mich“ mit tenoralem Glanz und schlanker agiler Stimmführung, und Juliana Zara und Manuel Günther sind ein perfektes Buffopaar.

Sebastian Kohlhepp und Julia Kleiter
© Wilfried Hösl

Die Hauptrolle, die Lehár gar nicht vorgesehen hat, hat Max Hopp als König, Hoteldirektor, vor allem aber als Conférencier. Mit ihm hat Ribitzki das  Stilmittel, mit dem er auch eine Operette mit wenig dramatischem Inhalt anno 2021 perfekt auf die Bühne zaubern kann. Denn so gelingt ihm die Gratwanderung, die Operette mit einem Hauch von Ironie zu relativieren und diese Kunstform zugleich ernst zu nehmen. So hat die Staatsoper mit dieser Produktion zugleich ein Musterbeispiel auf die Bühne gebracht, wie die schon oft tot gesagte Operette zu retten ist – vielleicht gerade weil Ribitzki sie nicht voll-, sondern „nur“ halbszenisch realisiert hat.

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