Auch, wenn Sie noch nie eine russische Oper in voller Länge gesehen haben, so haben Sie doch mit ziemlicher Sicherheit schon einmal Auszüge im Radio oder in Konzerten gehört - Ouvertüren und Orchestersuiten, deren leidenschaftliche slawische Melodien in exotischer instrumentaler Farbpalette, lebensfroh und ausnahmslos laut, sich beständiger Beliebtheit erfreuen. Sie aber sind nur eine Kostprobe der aufregenden Welt der russischen Oper, und wenn Sie die Gelegenheit bekommen, lohnt es sich sehr, sie einmal in voller Länge zu sehen.
Wie andere Kunstformen hat die russische Oper erst im frühen 19. Jahrhundert zu ihrer eigenen, nationalen Stimme gefunden. In den hundert Jahren davor, nach den verwestlichenden Reformen Peters des Großen, produzierten russische Autoren, Künstler und Musiker generell nur blasse Imitationen europäischer Kunst, besonders der italienischen, und die Oberschicht sprach überwiegend französisch. Nach Russlands Sieg über Napoleon aber lebte der Nationalstolz wieder auf, ein jeder sprach wieder russisch, und Künstler begannen, in ihrem eigenen Land, ihrer reichen Folklore, ihren Landschaften und ihrer turbulenten Geschichte nach Inspiration zu suchen. Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837), der gemeinhin als Vater der russischen Literatur gilt, formte das Russische zu einer eleganten, literarischen Sprache, aber er durchzog seine Fiktion auch mit einem unverkennbar Russischen Ausblick.
Es spricht auch einiges dafür, Puschkin als "Vater der russischen Oper" zu betrachten, denn seine Werke bildeten die Basis für einen beträchtlichen Teil des großartigen Repertoires des 19. Jahrhunderts, angefangen mit Glinkas Vertonung seines Märchengedichts Ruslan und Ljudmila, das 1842 uraufgeführt wurde. Die bekannteste ist wahrscheinlich Tschaikowskys Fassung von Puschkins beliebten Versroman Eugen Onegin (1879). Bemerkenswert ist, dass der Roman, als Tschaikowsky ihn vertonte, bereits so tief in der russischen Kultur verwurzelt war, dass er ihn nurmehr als "Lyrische Szenen" vertonen brauchte, für die er die Höhepunkte herauspickte, denn er wusste, sein Publikum würde die Lücken füllen können. Tschaikowskys reiche Melodien und dramatische Orchestrierung verleiht dem trockenen, ironischen Ton des Gedichtes einen emotionalen Stoß: das Gedicht kann man mit schiefem Lächeln und hochgezogener Augenbraue lesen, aber die Oper geht einem ans Herz. Tschaikowskys zweite große Puschkin-Vertonung ist Pique Dame (1887): Puschkins elegante und gespenstische Kurzgeschichte mit dem bösen Ende lässt sich ausgezeichnet auf die Opernbühne übertragen, und die majestätische Titelfigur der stolzen, alten Dame, die durch einen Trick dazu gebracht wird, ihr Spielgeheimnis preiszugeben, ist ein Geschenk für jeden dramatischen Mezzosopran. Doch nicht nur Tschaikowsky, auch Rachmaninow fand in Puschkins Werken Material für zwei seiner drei einaktigen Opern - Aleko (nach “Die Zigeuner”) and Der geizige Ritter.
Russlands brutale wie farbenreiche Geschichte und Folklore boten einen weiteren Fundus an Material für Opernkomponisten, die eine nationale kulturelle Identität zu schmieden suchten - oft mit Puschkins Hilfe. Boris Godunow, ein Schauspiel in Blankvers, ist eine Tragödie im Shakespeare-Stil und beschreibt den Sturz eines Herrschers des 16. Jahrhunderts, der unter dem Druck von Macht und Krieg schrecklich falsche Entscheidungen trifft. Mussorgskys Opernfassung ist ein episches Werk, das eindrucksvolle Chorszenen mit eingehender psychologischer Analyse verbindet, und es endet mit meiner Lieblingsszene aus russischen Opern, einem herzzerreißenden Klagelied für Russlands ewig tragische Geschichte “Fließet, fließet, heiße, bittre Tränen”.
Borodins Prinz Igor geht auf ein russisches, mittelalterliches Manuskript zurück, und ist wohl vor allem für die “Polowetzer Tänze” bekannt, die oft als separates Stück aufgeführt werden. Meine eigene Begeisterung für Russland begann in meiner Kindheit mit russischen Märchen, die immer grimmiger, düsterer und anschaulicher waren, und in denen es oft mutige, erfinderische weibliche Figuren gab, die so viel interessanter waren als einfältige Prinzessinnen mit Erbsen in ihrem Bett. Rimski-Korsakows einfallsreiche Orchestrierung scheint wie gemacht für diese Geschichten, und einige seiner bekanntesten Opern - Sadko, Schneeflöckchen, und Der Goldene Hahn beziehen sich auf russische Folklore.
Puschkin, Geschichte und Folklore, diese drei Elemente bilden die Basis der russischen Oper des 19. Jahrhunderts, aufgelöst durch Umbrüche aufgrund von Krieg, Revolution, und, für viele Komponisten, Emigration. Strawinsky bezog sich in seinen Opern zumeist auf westeuropäische Themen wie in Oedipus Rex (mit lateinischem Chortext) und The Rake’s Progress (Der Werdegang eines Wüstlings) (Auden), und auch Rachmaninow wählte Francesca da Rimini nach der Geschichte in Dantes Inferno. Die Komponisten des 20. Jahrhunderts, die sich an russische Themen hielten, suchten auch über Puschkin hinaus nach Inspiration aus der Literatur. Prokofjew versuchte sich an einer Vertonung von Tolstois ausuferndem Epos Krieg und Frieden - Alex Ross beschreibt es als "erfolgreichen Versuch des Unmöglichen" - und war mit Der Spieler einer der wenigen Komponisten, die versucht haben, einen Dostojewski-Text als Oper umzusetzen. Prokofjews bekannteste Oper folgt trotz ihrer italienischen Grundlage der Märchen-Tradition. Die Liebe zu den Drei Orangen ist gerissen und surreal, mit Prinzessinnen, die in Orangen verwandelt wurden, und einer Musik voll von Prokofjews typisch ungleichgewichtiger Melodien, die perfekt zur skurrilen Geschichte passen.
Die berüchtigtste russische Oper ist zweifelsohne Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk, eine einfache Geschichte von Lust, Ehebruch und Mord. Obwohl das mit Leichtigkeit zahllose Opern des ganzen europäischen Repertoires beschreiben könnte, streift der Komponist mit dem banalen Kleinstadt-Schauplatz jeglichen fehlplatzierten Glanz ab. Was bleibt ist die garstig brutale Geschichte. Die Oper wurde zunächst gut aufgenommen, dann aber besuchte Stalin 1936 eine Vorstellung und verließ sie frühzeitig, und ein anonymer Artikel auf der Titelseite der Prawda beschrieb sie als "Chaos statt Musik". Von diesem Zeitpunkt an war die Oper in der Sowjetunion verboten und Schostakowitsch musste qualvoll versuchen, seine künstlerischen Ideen mit seiner dringend notwendigen politischen Rehabilitation zu vereinen. Das Ergebnis dieser Versuche ist die mehrdeutige Fünfte Symphonie, die er als "kreative Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechtfertigte Kritik" beschrieb.
Russische Opern stellen eine große Herausforderung für Intendanten und Sänger dar. Die historischen und die Märchenopern sind lang und sorgfältig ausgearbeitet, sie bedürfen großer Bühnen und Chöre sowie großer Stimmen mit viel Ausdauer: natürlich es gibt Bassrollen, die für ihre tiefe Lage berüchtigt sind, und in Szenen wie Tatjanas Briefschreiben in Eugen Onegin oder der Sterbebeichte der Gräfin in Pique Dame muss ein einzelner Sänger die Aufmerksamkeit des Publikums für eine beträchtliche Dauer aufrecht erhalten. Die ungewohnte Sprache ist dabei schon eine Herausforderung an sich, doch wenn man die bedrohlich aussehenden Konsonantenanhäufungen erst einmal bewältigt hat, sorgen die runden, italienischen Vokale dafür, dass es eine wahre Freude ist, russisch zu singen und gesungen zu hören.
Mit Dank an Dr. Philip Bullock für seine Unterstützung.
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Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.

