Brahms und Ravel? Wäre das nicht wie Öl und Wasser? Brandy und Wodka? Nun, Konzertprogramme sind keine Cocktails, und Musiker sind eher Geschichtenerzähler als Mixologen. Beatrice Rana bringt diese ungleichen Charaktere in einem neuen Konzertprogramm zusammen, das das Publikum des LAC Lugano Arte e Cultura in einem Konzert am 18. Oktober als eines der ersten zu hören bekommen wird. Im weiteren Verlauf der Saison wird die italienische Pianistin mit dem Programm durch Europa und die USA touren.

Beatrice Rana © Charles d’Hérouville
Beatrice Rana
© Charles d’Hérouville

Obwohl sie im Vergleich zu den meisten ihrer Zuhörer noch zu den „jungen“ Musiker*innen zählt, ist Rana eine erfahrene Künstlerin. Die Tochter zweier Pianisten gab ihr Debüt als Solistin mit Orchester im Alter von neun Jahren. Eine Reihe von Wettbewerbserfolgen gipfelte in der Silbermedaille beim Van-Cliburn-Wettbewerb 2013, und im folgenden Jahr begann sie, Aufnahmen für Warner Classics zu machen. Wenn sie in der zweiten Hälfte ihres Konzerts Ravels Gaspard de la nuit spielt, greift sie auf mehr als 15 Jahre Erfahrung mit dem Stück zurück, das sie bereits als Teenagerin gespielt hat.

Die Gestaltung des neuen Programms begann mit Brahms. „Ich habe noch nie eines seiner Soloklavierstücke im Konzert gespielt“, erzählt sie mir per Videoanruf aus ihrer Wohnung in Rom, mitten in einem apokalyptischen Mittagsgewitter (das später auf den Titelseiten der internationalen Zeitungen erscheint, nachdem Blitze den Konstantinbogen in Stücke gerissen haben). „Dann dachte ich mir, warum nicht mit der ersten Sonate beginnen, die er geschrieben hat?“

Die Sonate Op.2 gehört zu den frühesten Werken von Brahms, die die selbst in diesem frühen Stadium der Karriere des Komponisten heftige Selbstkritik überlebten, die dazu führte, dass zahllose Notenblätter dem Feuer übergeben wurden. Er war gerade 20 Jahre alt, als er sie im November 1852 vollendete, und schrieb alles bis auf das Andante der Sonate Op.1 nach ihr. „Dies war das erste Stück, das er für Robert Schumann spielte“, sagt Rana, “und es ist Clara Schumann gewidmet. Und ich habe gerade ein großes Projekt mit dem Klavierkonzert von Clara Schumann abgeschlossen. Diese Idee ist also aus meinem aktuellen künstlerischen Leben heraus entstanden.“

Rana hat auch eine beträchtliche Erfahrung mit dem d-Moll-Konzert Op.15, das sie als Höhepunkt der frühen Brahms-Periode betrachtet. Was das Konzert und die frühe Sonate gemeinsam haben, ist der Ehrgeiz und der Sinn für die Dimension, die die Bezeichnung „symphonisch“ unwiderstehlich machen. „Sobald man beginnt, die Partitur zu lesen, merkt man, dass es keine Sonate ist. Ich spüre die Dringlichkeit, mit der er das Klavier als symphonisches Instrument einsetzen will, und seinen Wunsch, das Klavier über seine Grenzen hinaus zu führen. Deshalb habe ich beschlossen, ein Programm zu entwickeln, das symphonisch und mehr als pianistisch ist.“

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Beatrice Rana in der Philharmonie de Paris
© Charles d’Hérouville

Dabei orientiert sich Rana an den Schumanns, die eines Tages im September 1853 den 20-jährigen Brahms vor ihrer Haustür vorfanden, was sich als eine der folgenreichsten Begegnungen in der Musik des 19. Jahrhunderts erweisen sollte. Robert Schumann erinnerte sich später: „Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien...“

Anstatt das Offensichtliche zu tun und der Sonate Op.2 einige von Robert Schumanns eigenen Werken wie Papillons voranzustellen, eröffnet Rana ihr Konzert mit einem „Strauß“ von Stücken von Felix Mendelssohn Bartholdy. Vor der Begegnung mit Brahms war Mendelssohn schließlich bis zu seinem frühen Tod 1847 die wichtigste Figur in Roberts Leben (Clara ausgenommen). Auch hier erinnert sich Rana an eine Verbindung, die bis in die Kindheit zurückreicht.

„Ich habe Mendelssohns Musik schon immer geliebt“, sagt Rana, “und ich finde, dass er im Vergleich zu Chopin, Schumann, Brahms und Liszt immer noch so unterschätzt wird. Ich habe lange gebraucht, um mich für die Stücke zu entscheiden, die ich spielen wollte, weil ich zeigen wollte, dass er nicht nur ein Biedermeierkomponist ist“ – die bürgerliche kulturelle Geisteshaltung des zweiten Viertels des 19. Sie ging alle alten Bände ihrer Familienmusikbibliothek durch und kaufte sich selbst neue. „Mein Vater liebt diese Musik. Ich erinnere mich, dass er die Sonate Op.106 andauernd gespielt hat. Er war überglücklich, als ich ihm von meiner Idee erzählte, diese Auswahl zu spielen. Er sagte mir, ich müsse ein paar Präludien und Fugen spielen – weil er Kontrapunkt liebt – aber das mache ich nicht!“ Stattdessen beginnt Rana mit einem der Lieder ohne Worte, Op.67, „das wirklich nach Brahms klingt. Dann stieß ich auf dieses Scherzo, und ich war erstaunt - es ist nur ein paar Seiten lang, nicht einmal eine Minute, keine Opuszahl. Es ist so witzig und so lebendig – Mendelssohn zeigt uns seine Pierrot-Seite“.

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Beatrice Rana
© Simon Fowler | Warner Classics

Pierrot, der Clown aus der Commedia dell'arte mit ungewisser Mission, wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu einer Schlüsselfigur für musikalische Innovatoren. Nicht nur für Schönberg in Pierrot lunaire, sondern auch für Strawinsky in seinen neoklassischen Werken wie Pulcinella sowie für Leoncavallo in I pagliacci. Ravel reagierte sicherlich auch auf einen entfremdeten, Pierrot-ähnlichen Geist des Unfugs in der Dichtung von Aloysius Bertrand, als er 1908 Gaspard de la nuit komponierte – und vor allem in seinem Finale, das den bösartigen Kobold Scarbo heraufbeschwört: „Wie oft hörte ich sein Lachen im Schatten meiner Nische, und seine Fingernägel knirschten an der Seide der Vorhänge meines Bettes!“

Rana war gerade einmal 14 Jahre alt, als sie sich Ravels Suite vornahm, die noch immer als Friedhof der Technik selbst für die geschicktesten Pianisten gilt. „Es war das erste große Stück, das ich gespielt habe“, erinnert sie sich und stellt es neben das Erste Klavierkonzert von Tschaikowsky als ein Werk, das sie seither immer begleitet hat. „Ich bin mit Gaspard aufgewachsen, aber ich habe aufgehört, es zu spielen, als ich 20 war. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal wieder spiele, sehe ich, wie stark ich mich verändert habe, aber auch, wie konstant ich in mir selbst bin.“

Vor zehn Jahren hätte sie sich nicht vorstellen können, die Brahms’ Sonate Op.2 zu spielen, sagt Rana. „Ich konnte mich einfach nicht mit dieser Musik identifizieren. Ich hatte nicht genug Lebenserfahrung, um sie in das Werk einfließen zu lassen. Bei Ravel gibt es immer einen sinnlichen Aspekt, aber er ist nie offen, er ist immer nur eine Andeutung. Gleichzeitig gibt es eine kindliche Textur und Unschuld und Transparenz, die es möglich macht, diese Musik schon als Kind oder als Teenager zu verstehen. Und natürlich, wenn man älter wird, findet man mehr Facetten“. Abgesehen von der Poesie Bertrands weist Rana auf den Schatten des Makabren hin, der auf das Stück fällt, beeinflusst durch Ravels Liebe zu Edgar Allan Poe. Sie verweist auf den Eröffnungssatz der Suite, Ondine: „Oberflächlich betrachtet ist es nur das Licht des Wassers, das es schön aussehen lässt, aber es ist kein schönes Stück. Ondine ist keine Frau, sie ist eine Nymphe ohne Seele, die versucht, einem Mann die Seele zu stehlen - um ihn zu töten.“

Beatrice Rana spielt Ravels Klaviertranskription von La Valse.

Der Mittelsatz der Suite erinnert an das Schwanken eines Gehängten im Wind, ständig begleitet von einem unerbittlichen Puls im Bass. „Ich habe Ravels Musik immer mit einer Schweizer Uhr verglichen“, sagt Rana, „und Debussys Musik habe ich für flexibler gehalten. Und da lag ich falsch. Debussy ist auch unglaublich präzise, in gewisser Weise sogar noch präziser. Ravel ist bereits so anspruchsvoll in der Technik, die er verlangt, da ist schon ein Hindernis. Wir können nicht wie ein Metronom musizieren, aber Ravel sträubt sich gegen die romantische Tradition. Immer wenn es in der Partitur eine Stelle gibt, die natürlich zur Entspannung einlädt, schreibt er ,Sans ralentir’ [ohne langsamer zu werden]. Gaspard, und insbesondere ,Le gibet’, ist ein sehr modernes Stück. Es hat einen Puls, und dieser Puls ist wie ein Herzschlag. Ein Herzschlag verändert sich nicht, es sei denn, es stimmt etwas nicht mit ihm!”

Sowohl Ravel als auch Brahms behielten ihre Gefühle bekanntermaßen für sich – oder schrieben sie bestenfalls in Notizen nieder. Rana weist auf weitere Gemeinsamkeiten hin. „Sie sind beide unglaublich kultiviert, aber sie haben eine dunkle Seite, die sich im Einfluss der Volksmusik auf sie zeigt – die baskische Volkstradition bei Ravel, die ungarische Seite bei Brahms. Und sie bekommen nie was sie wollen – besonders in der Musik. Es ist nicht wie bei Chopin - er bekommt, was er will. Bei Brahms und Ravel gibt es immer eine Sehnsucht unter der Oberfläche“.

Beide Komponisten waren, wie Mendelssohn, auch sehr gute Pianisten, auch wenn die Anforderungen ihrer eigenen Musik sie manchmal überforderten. Rana schätzt an ihnen und an der Tradition der Pianisten-Komponisten, die vielleicht in Prokofjew, Bartók und Schostakowitsch gipfelt, eine „Manualität“, die die Virtuosität feiert. In jüngerer Zeit könnten wir auf die Etüden von Ligeti verweisen, die diese Begegnung von Geist und Fingern wiederbeleben. Rana gibt viel neue Musik in Auftrag und spielt sie für sich selbst, insbesondere für das Kammermusikfestival, das sie jeden Sommer in ihrer Heimatstadt Lecce im tiefsten Apulien leitet.

„Ich denke, das ist ein Problem, das wir heute haben. Die Komponisten müssen keine Pianisten mehr sein. Aber manchmal habe ich Schwierigkeiten mit zeitgenössischen Komponisten. Ich bitte sie, für mein Spiel zu schreiben, für die Art und Weise, wie ich mit dem Klavier umgehe. Ich möchte die physischen Grenzen des Klaviers spüren – und manchmal auch, dass diese Grenzen zerstört werden. Schließlich hat vor Ravel niemand daran gedacht, ein Stück wie Gaspard de la nuit zu schreiben. Dann lernte man, dass es möglich ist.”

Beatrice Rana spielt Ravels Gaspard de la nuit.

„Wir sind Kunsthandwerker“, fährt Rana fort. „Wir benutzen unsere Hände. Und mit großen Komponisten werde ich eine bessere Pianistin. Sie bringen mich dazu, meine Finger, meinen Körper und mein Gehirn auf eine andere Art und Weise zu benutzen. Als ich Clara Schumanns Konzert zum ersten Mal aufschlug, stellte ich fest, dass es ein wunderschönes Stück ist. Es ist kein Meisterwerk, aber ich konnte eine große Persönlichkeit am Klavier erkennen. Aber ich wusste nicht, welche Technik ich anwenden sollte, um es zu spielen. Dann wurde mir klar, dass die Musik ausdrückt, wie sie Klavier spielte, was sie gut konnte, und dass sie ihre Talente hervorheben wollte, so wie es Liszt und Rachmaninow auf ihre Weise taten. In den nächsten Tagen erwartet sie die Partitur eines neuen Concertinos - Omaggio a Luciano Berio -, das Éric Montalbetti für sie komponiert hat und das im Februar 2025 in Paris uraufgeführt werden soll. Sie lebt also in Hoffnung.


Beatrice Rana spielt am 18. Oktober im LAC Lugano.

Dieser Artikel wurde gesponsert von Fondazione LuganoMusica.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.