In seiner Berliner Wohnung reißt Julius Asal alle Fenster auf und zeigt sich im Gespräch mit mir vollkommen offen. Zugegeben, es ist eine Hitzewelle im Gange, aber dieser junge deutsche Pianist – gerade einmal 27 Jahre alt – ist selbst ein frischer Wind. Bei ihm geht die Improvisation Hand in Hand mit der musikalischen Interpretation, wie es für Pianisten vor 150 Jahren üblich war und heute nur noch selten der Fall ist; gleichzeitig ist seine kühne, intuitive Programmerstellung eindeutig dem Stil des 21. Jahrhunderts geschuldet. Auf seiner ersten Einspielung für Deutsche Grammophon stellt er zwei Komponisten gegenüber, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten – Scarlatti und Skrjabin – und verbindet sie manchmal mit seinen eigenen Improvisationen.
„Die Grundidee war, die erste Skrjabin-Sonate aufzunehmen, die ich immer geliebt habe”, sagt Asal. „Ich habe nie verstanden, warum so wenige Pianisten sie spielen oder aufnehmen. Für mich ist sie ein wunderbares Stück. Für mich ist sie perfekt geformt, mit so vielen verschiedenen Farben und Schattierungen, die in ihr eingefangen sind. Ich glaube auch, dass sie auf den späten Skrjabin hinweist: In diesem frühen Werk hat er bereits seine Eigenartigkeit entdeckt.
„Es war ein großer Traum, sie aufzunehmen. Und es mit einer anderen Welt zu kombinieren... Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin! Aber wenn ich einen Komponisten aus einer anderen Epoche finde, der einen völlig anderen Stil und eine andere Ästhetik hat, und dann einen neuen ,Raum’ finde, in dem sie sich treffen, habe ich das Gefühl, dass sie vielleicht einen inneren Raum durch ihre Miniaturstücke und ihre Menge an Details teilen, wie kleine Lichter, die auftauchen und wieder verschwinden.”
Es ist ein Risiko, aber man spürt eine innere, unbewusste Logik. „Es war interessant, sich auf diese Reise zu begeben, denn es gibt viele Zusammenhänge, die auch ich nicht erklären kann”, sagt Asal. „Manchmal endet ein Skrjabin-Präludium auf einer Note, die auch die erste Note der nächsten Scarlatti-Sonate sein wird. Aber auf einer anderen Ebene empfinde ich es als schön, Dinge zu entdecken, die man nicht wirklich in Worte fassen kann.”
Er beginnt und beendet das Programm mit Teilen des letzten Satzes, Funèbre, aus Skrjabins Erster Sonate; in der Mitte spielt er das gesamte Werk. Der Rest ist einer Auswahl von Präludien und Etüden des russischen Komponisten und Sonaten von Scarlatti gewidmet, sowie einigen „Übergängen” von Asal, die als Improvisationen begannen.
Für viele klassische Pianisten bleibt das Improvisieren ein Buch mit sieben Siegeln. Nachdem sie von Kindesbeinen an darauf trainiert wurden, jede Note der Partitur zu respektieren, kann die Vorstellung, von der Spur abzuweichen und eigene Improvisationen zu kreieren, ziemlich einschüchternd wirken. Asal hat jedoch eine ganz andere Erfahrung gemacht.
„Das Improvisieren war mein erster Schritt in die Musik. Meine Mutter ist Pianistin, und wir hatten ein Klavier im Wohnzimmer. Ich war fast drei Jahre alt und konnte noch nicht mit meinen Eltern sprechen – ich habe erst ziemlich spät mit dem Sprechen begonnen. Aber ich entdeckte diese schwarzen und weißen Tasten und fand sie richtig interessant.” Bis er acht Jahre alt war, hatte er keinen „richtigen” Klavierunterricht. „Meine Eltern haben mich einfach spielen lassen. Ich hörte meiner Mutter und ihren Klavierschülern zu und versuchte, das Gehörte zu kopieren. Ich habe frei gespielt und improvisiert; es war ganz natürlich und ich habe es nie in Frage gestellt.”
Die musikalische Familie lebte in der Nähe des Taunasgebirges vor den Toren Frankfurts – „aber in den Bergen aufzuwachsen, klingt träumerischer als es war”, scherzt Asal. „Mein Vater war Soloklarinettist an der Frankfurter Oper, meine Großmutter war Schlagersängerin und mein Bruder ist heute Jazz- und Pop-Schlagzeuger. Es gab viel Musik in unserem Haus. Sie haben wohl verstanden, dass es das Wertvollste und Natürlichste ist, ein Kind, das so spielen will, einfach machen zu lassen. Der Wunsch und die Energie, weiterzumachen, kamen ganz von mir.
„Als ich mich mehr der klassischen Seite zuwandte, war das nicht wirklich eine Entscheidung. Ich hatte das Gefühl, dass das für mich viel natürlicher ist. Es fühlt sich an wie ich.” Er studierte zunächst bei Sibylle Cada und Wolfgang Hess und Oliver Kern in Frankfurt: „Ich hatte das Glück, die richtigen Leute zu finden, die mir den Rahmen gegeben haben, den ich brauchte.”
Dennoch hat er nie sein Gefühl für das Improvisieren verloren: „Es ist viel mehr als nur das zu spielen, was einem in den Sinn kommt. Es ist auch eine Herangehensweise an das Musizieren auf der Bühne. Das ist Musik, die es wirklich verdient, im Moment erforscht zu werden, und viele große Künstler machen das wahr. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel mit Robert Levin an Mozart gearbeitet. Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie man die Improvisation in den heutigen Kontext einbinden kann, aber auch in die Tradition der damaligen Zeit. Ich finde, es ist ein schöner Weg nach vorn. Es ist nicht der einzige Weg, aber es ist eine Möglichkeit.”
Musik von innen heraus, aus der Sicht eines Künstlers, zu verstehen, könnte einer Aufführung eine zusätzliche Ebene verleihen. „Es ist eine Gratwanderung”, gibt Asal zu. „Einerseits glaube ich, dass die Verbindung von Tradition und Innovation für mich persönlich das Wichtigste ist. Auf der anderen Seite ist es wichtig, die Partitur zu erforschen und nahe an dem zu sein, was der Komponist wollte. Es gibt einen Weg, innerhalb der Details, die die Komponisten hinterlassen haben, seine eigene Sprache zu finden.”
Nach einem Besuch in Berlin fasste Asal den Entschluss, dort zu leben. Das Studium bei dem usbekischen Pianisten Eldar Nebolsin war dabei ein wichtiger Bestandteil: „Ich wollte unbedingt in Berlin sein – ich habe dort immer eine andere Energie gespürt, vor allem für klassische Musik. Hier habe ich Eldar kennengelernt, und wir hatten sofort eine großartige Verbindung. Er versteht die Musik von Rachmaninow so gut, aber als ich ihn zum ersten Mal traf, bat er mich, entweder eine Schubert- oder eine Beethoven-Sonate zu spielen. Ich liebe die Art und Weise, wie er an der Struktur arbeitet und untersucht, wie die Farbe ins Spiel kommt, was eine der wesentlichen Fragen ist, die ich als sehr bereichernd empfunden habe.”
2018 traf er Sir András Schiff zum ersten Mal, „hauptsächlich für Kammermusik – und nachdem ich ihm bei verschiedenen Festivals vorgespielt hatte, fragte er mich, ob ich bei ihm an der Kronberg Academy studieren wolle. Ich bin wirklich glücklich und fühle mich geehrt, ihn zu kennen und mit ihm arbeiten zu dürfen. Er kennt keine Grenzen! Er ist von seinen Idealen überzeugt, kann aber auch sehen, wer man ist, und das ist ein wunderbares Gleichgewicht. Mit ihm Bach, Beethoven, Brahms, Bartók zu studieren – das ist eine andere Welt! Und dann habe ich ihm etwas Skrjabin mitgebracht – was die meisten Leute wohl nicht tun würden.” Schiff spielt selten oder nie Skrjabin: „Das war ein unglaublich frischer, bereichernder Austausch.” Asal ist inzwischen in Schiffs Konzertreihe Building Bridges aufgetreten, in der er junge Künstler in Rezitalen präsentiert: „Ich glaube, das ist seine Antwort auf die Wettbewerbsszene”, sagt Asal.
„Ich wurde eingeladen, an einem großen Wettbewerb teilzunehmen, aber dann kam das DG-Album dazwischen und es war nicht möglich, beides zu machen. Ich fand, es war ein Zeichen. Ich würde mich gerne auf das konzentrieren, was ich wirklich machen möchte, ohne mich um das richtige Repertoire für jede Runde kümmern zu müssen... Ich bewundere alle meine Kollegen, die zu Wettbewerben gehen und in der Lage sind, unter diesen Bedingungen das zu liefern, was sie sagen wollen. Ich persönlich habe mich selten auf einer Wettbewerbsbühne zu Hause gefühlt.”
Ironischerweise kam sein Durchbruch ausgerechnet während der Pandemie. Mitten in dieser Zeit nahm er ein enorm beeindruckendes Prokofjew-Album auf: die Vier Stücke, Op.4, Pensées, Op.62 und Auszüge aus der Ballettmusik Romeo und Julia, letztere größtenteils in seinen eigenen Transkriptionen (erschienen bei IBS Classics). Am Anfang stand zum Teil eine Überlebensstrategie. „Wir waren alle geschockt von der Pandemie und dem Lockdown. Ich habe sofort überlegt, wie ich diese Zeit positiv nutzen kann. Und Herr Prokofjew zog ein. Prokofjew ist meine Covid-Ablenkung.
„Ich habe mindestens eineinhalb Jahre mit Sergej Prokofjew zusammengelebt. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und dieses Album mit meinen eigenen Transkriptionen wurde Wirklichkeit. Es war eine seltsame Erfahrung, endlich die Luft zum Atmen für ein so persönliches Projekt zu haben und diese innere Freiheit zu finden, während die äußere Welt überhaupt nicht frei war.”
Die Aufnahme trug frische Früchte. „Es war verrückt!” sagt Asal und lacht. „Der Produzent Christian Badzura hat das Album gehört und sich mit meinem Management in Verbindung gesetzt. Er kam zu einem Konzert von mir in Berlin und danach haben wir uns bei einem guten Glas Rotwein über Musik unterhalten...” Das Ergebnis: Skrjabin und Scarlatti auf DG.
Jetzt warten aufregende neue Herausforderungen auf ihn. In diesem Herbst nimmt Asal am BBC New Generation Artists Programm teil, was bedeutet, dass er häufig im Vereinigten Königreich und bei Radio 3 zu hören sein wird. „Das ist ein neues Kapitel für mich, und ich freue mich darauf, öfter in London zu sein, weil ich die Stadt wirklich liebe”, sagt er. Wir werden noch sehr viel von ihm hören. Und ich für meinen Teil kann es kaum erwarten.
Bald verfügbar auf STAGE+
Erleben Sie die Premiere des Rezitals von Julius Asal mit Werken von Skrjabin, Scarlatti und Brahms im Seoul Arts Center in Korea. Streamen Sie es am 10. August 2024 auf STAGE+, dem Streaming-Dienst für klassische Musik der Deutschen Grammophon.
Dieser Artikel wurde gesponsert von Deutsche Grammophon.
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.