Marin Alsop glaubt fest daran, dass „Musik die Macht besitzt, Leben zu verändern“. Sie leitet derzeit zwei Orchester. Sie ist seit 2007 Chefdirigentin des Baltimore Symphony Orchestra – und ihr Vertrag wurde vor Kurzem zum zweiten Mal verlängert, nun bis 2021 – während sie dem São Paulo Symphony Orchestra (OSESP)seit 2012 vorsteht und es zum ersten Mal zu den BBC Proms brachte. Beide Orchester bieten aufregende Musikvermittlungsprogramme, um klassische Musik unter neues Publikum zu bringen. Marin Alsop brachte das OSESP vor zwei Wochen abermals zu den Proms und kehrt diese Woche zurück, um am vorletzten Abend der Spielzeit Verdis Requiem zu dirigieren. Wir haben uns vor Probenbeginn kurz mit ihr unterhalten.

MP: Sie kommen diese Woche für Verdis Requiem zu den Proms zurück. Wo liegen die Herausforderungen bei diesem Werk, besonders in der Royal Albert Hall?

MA: Die Herausforderung in der RAH liegt in der Größe des Hauses, der Entfernung des Publikums und der Entfernung zwischen den Musikern. Koordination und Timing werden meine Herausforderungen im Verdi sein. Ich weiß zum Beispiel, dass es wegen der Trompeten backstage sehr schwierig sein wird, das Dies irae zu koordinieren.

MP: Wie beeinflussen die historischen Instrumente ihre Herangehensweise? Was bringt das Orchestra of the Age of Enlightenment (OAE) zu dieser Party mit?

MA: Es ist eine Freude, mit dem OAE zu arbeiten. Es geht nur um die Musik – Phrasierung, Linien, Bewegung, Architektur, Farbe, Nuance – es ist fantastisch! Unsere Interaktion ist ganz Musik, die ganze Zeit!

MP: Sie haben eine großartige Beziehung mit den Prommern und haben die Last Night of the Proms zweimal dirigiert.

MA: Ganz besondere Abende, alle beide. Meine liebste Erinnerung ist die an ein freundliches, offenes Publikum bei beiden Veranstaltungen.

MP: Wie haben Sie ihre Ansprachen für die Last Nights geschrieben? Fällt es Ihnen leicht, zum Publikum zu sprechen?

MA: Ich spreche gerne mit dem Publikum, aber ich muss auch sagen, dass ich am Anfang meiner Karriere viel Übung darin bekommen habe: ich habe 20 Jahre lang eine Streich-Swing-Band mit dem Namen String Fever geleitet, und weil wir in Clubs und alternativen Veranstaltungsorten aufgetreten sind, habe ich mich schließlich wohl dabei gefühlt, der Band in allen möglichen Situationen vorzustehen und zu verschiedenstem Publikum zu sprechen.

Ich arbeite mit all meinen Dirigierstudenten an öffentlichem Sprechen. Die „Ansprachen“, die am natürlichsten und spontansten klingen, sind üblicherweise die, über die am längsten nachgedacht und die am längsten geübt wurden!

MP: Ihre Amtszeit in Baltimore ist bis 2012 bestätigt worden – was lieben Sie an diesem Orchester? Wie würden Sie seinen Klang beschreiben?

MA: Die Musiker spielen mit Leidenschaft, sie sind feinfühlig und großzügig. Das Orchester begleitet besser als jedes andere! Wir haben an der Tiefe und der Dimension unseres Klanges gearbeitet und haben nun ein wunderbares Spektrum und eine Palette von Klangfarben, die wir in den Meisterwerken, die wir spielen, servieren können.

MP: Jemand, der sich im Gespräch zu dem Publikum immens wohlgefühlt hat, war Leonard Bernstein, einer Ihrer größten Einflüsse. Was haben Sie als Schülerin von „Lenny“ von ihm gelernt, sowohl bezüglich Dirigierstil als auch seiner Philosophie zu Leben und Musik?

MA: Ich habe von ihm so viel über Musik und noch so viel mehr gelernt! Er hat mich immer ermutigt, mir selbst treu zu sein, nicht zu imitieren, sondern authentisch zu sein und immer daran zu denken, dass meine Rolle zu allererst die ist, dem Komponisten zu dienen. LB glaubte, dass Musik uns vereinen und verbinden kann, und dass wir als Künstler eine inhärente Verpflichtung haben, gute Bürger dieser Welt zu sein.

MP: Erzählen Sie uns von der Arbeit in der Musikvermittlung in Baltimore und São Paulo. Hat ein Programm das andere inspiriert? Wo lagen die Erfolge?

MA: Das BSO versucht, jede Generation und jede Gemeinschaft zu erreichen. Wir haben ein intensives Nachmittagsmusikprogramm für Kinder, genannt Orchkids. Wir haben 2008 mit 30 Kindern angefangen und jetzt spielen 1100 ein Instrument. Wir haben auch zwei Jugendorchester und erreichen zehntausende Kinder mit Familienprogrammen und Konzerten in der Wochenmitte. Für Erwachsene gibt es unsere „Rusty Musician“-Initiative und ein BSO Sommer-Phantasie-Camp, die „BSO Academy“.

In São Paulo führt das Orchester eine „Akademie“, die die fortgeschrittensten Musiker Brasiliens in einem aktiven, einer Lehre ähnlichen Programm ausbildet, das jeden Aspekt des Weges zum professionellen Musiker beinhaltet. Wir haben derzeit 20 Instrumentalisten, 20 Sänger und vier brasilianische Dirigenten in der Akademie. Für junge Musiker, die professionelle Stellen finden, hat die Akademie hat eine 100 prozentige Erfolgsrate!

MP: Ich habe die São Paulo-Proms im Fernsehen sehr genossen. Gehen die Brasilianer anders an das Musizieren heran als andere Orchester, die Sie dirigieren?

MA: Schön, dass Ihnen die Konzerte gefallen haben! Wie Sie sehen konnten, stürzen sich die Brasilianer Kopf voraus in die Sache und geben 100% von sich, 100% der Zeit! Sie scheuen sich nicht, ihren Enthusiasmus und ihr Engagement zu zeigen; das liebe ich.

MP: Sie haben sich für die Musik vieler amerikanischer Komponisten im Konzert und auf Platte eingesetzt. Auf welche jungen Komponisten sollten wir auf dieser Seite des Atlantik ein Auge haben?

MA: Es gibt so viele wunderbare junge Komponisten! Mason Bates, Missy Mazzoli, David T. Little, Judah Adashi, Michael Kropf...

MP: Es gab in den Medien große Aufregung darüber, dass Mirga Grazinyte-Tyla zur Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra ernannt wurde, hauptsächlich wegen ihres Geschlechts. Sie wurden vor 14 Jahren Chefdirigentin in Bournemouth. Sind Sie überrascht, dass so viel Aufhebens gemacht wurde? Hat sich die Welt der klassischen Musik in den Jahren seit damals wirklich so wenig entwickelt?

MA: Ich freue mich riesig für sie und das CBSO, aber Ihre Frage, die die Lücke von 14 Jahren zwischen Frauen an der Spitze britischer Orchester aufzeigt, sagt alles, oder?

MP: Im Zentrum des Lucerne Festival stand dieses Jahr seine „Prima Donna“-Serie. Wie stehen Sie zu positiver Diskriminierung?

MA: Es war großartig, so viele Frauen zu sehen. Ich hoffe, im nächsten Jahr laden sie noch mehr ein!!

MP: Sie waren in Luzern an Meisterkursen beteiligt. Welche Tipps geben Sie an die nächste Generation weiblicher Dirigenten weiter?

MA: Es gibt bestimmte Dinge zur Gestik, die Frauen anders als Männer betreffen, also wird das fast immer angesprochen. Beim Dirigieren geht es ganz um die Gestik und Körpersprache und es ist wichtig zu verstehen, wie die Gesellschaft Gesten interpretiert und wie diese Interpretation sich zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Ein weiteres Problem, das oft auftritt, ist das der „Stärke“, oder vermeintlicher Stärke, und wie man Stärke überzeugend vermittelt.

Ich engagiere mich voll dafür, so viele Lerngelegenheiten für Dirigentinnen wie möglich zu schaffen. 2002 habe ich ein Stipendium für Dirigentinnen ins Leben gerufen, die Taki Concordia Conducting Fellowship (TCCF).

Alle elf Stipendiatinnen arbeiten erfolgreich in der Praxis – einige sind amerikanische Chefdirigentinnen, andere Assistentinnen bei großen Orchestern auf der ganzen Welt, und wieder andere haben ihre eigenen Orchester gegründet. Wir bieten Unterstützung, Rat und Ermutigung während ihrer gesamten Entwicklung und ich bin extrem stolz auf alle Taki-Stipendiaten!

MP: Ich habe in den letzten Monaten einige Male gesehen, wie Dirigenten ihren Taktstock gen Himmel schicken. Haben Sie auf dem Podium schon peinliche Momente gehabt?

MA: Einmal in Köln ist eine Maus durch eine Vorstellung von Mahlers Siebter gerannt, das war ziemlich unterhaltsam!

MP: Wie entspannen Sie sich zwischen Konzerten?

MA: Ich liebe es, zuhause Zeit mit meiner Familie zu verbringen, zu lernen, zu lesen, nachzudenken... oder auch nicht zu denken!


Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.