Den großen Beethoven-Sonaten-Zyklus wollte Igor Levit eigentlich schon 2020 beim Lucerne Festival abschließen; nun wissen wir alle, was dazwischenkam. Jetzt war es so weit. Nr. 27, 28 und die berühmte Hammerklaviersonate standen auf dem Programm. Große Erwartungen auf allen Seiten. Für Levit ist und bleibt es das wohl anspruchsvollste Stück Klavierliteratur und sowohl für ihn als auch fürs Publikum eine Überforderung – erst recht coronabedingt ohne Pause. So war es auch deshalb ein Abend großer Kontraste mit viel Leidenschaft, Nähe und Raum für Interpretation im Live-Moment.
Der Abend begann mit der 1814 entstanden nur zweisätzigen Sonate Op.90, die erstmals nur deutsche Satzbezeichnungen trägt: „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“ soll der erste Satz vorgetragen werden, dessen Dramaturgie gänzlich auf Kontraste setzt. Das sind Igor Levits große Stärken, denn Empfindung (nach innen) und Ausdruck (nach außen), vermag er sehr gut zu verbinden, immer in der Musik und ihrer Wirkung gleichzeitig. Er nimmt Atmosphäre auf und gestaltet sie. Im eigentlich eher aggressiven ersten Satz, der harmonisch recht träge bleibt und trotzdem zwischen Nervosität und Aufbruch wechselt, machte Levit jede Seufzerfigur zu einem Erlebnis großer Traurigkeit. Der zweite Satz, ganz anders, bestehend aus cantabile-Themen, die oft mit Schubert verglichen werden, hat nicht abreißen wollende Fäden, die reine Wohltat sind. Alles ist Melodie ohne Kanten, die Levit mit viel Geschick scheinbar nie enden ließ.
Auch die Sonate Op.101 spielt mit der kontinuierlichen Bewegung, der unendlichen Melodie, wie Wagner sagte. Levits besonderes Talent lag an diesem Abend auch darin, im akustisch unglaublichen KKL Luzern den Bedarf an absoluter Stille noch zu erhöhen. Er ging sehr stark in die Kontraste, das Pianissimo erfüllte den Saal. Das Publikum saß mit gespitzten Ohren, ganz an der Musik. Levit bleibt ein Meister darin, die Mechanik des Klaviers verschwinden zu lassen. Harte Anschläge und die Schroffheit vieler Flügel beherrscht er so gut, sodass es ein zartes, farbenreiches, und selbst bei gewaltigeren Ausbrüchen ein reines Klangerlebnis ist ohne ungewollte Härte der modernen Flügel. Jede Entwicklung war klug herausgearbeitet, verstanden.
Im Gegensatz zum zweiten Satz, der zwar „marschmäßig“ sein soll, aber viel zu schnell ist für einen Marsch, wird der dritte Satz komplett abgedunkelt mit linkem Pedal und schwebender Geste gespielt, führt vom Großen wieder zum in sich Gehenden und steigt in der Temperatur langsam bis zum Finale an. Levit spielte die Brüche immer groß.
Noch größer und schweißtreibender war der Höhepunkt des Abends: die Hammerklaviersonate. 1200 Takte Musik, ungefähr. Und das, nachdem Igor Levit peinlich berührt wieder in den Saal kam, weil er nicht wusste, dass es keine Pause gab. Jeden Tag denke er an die Hammerklaviersonate – und das merkt man, da ist alles drin: Schillern, Krach, Apokalypse, leidend, still und ein Grenzen sprengender 17-minütiger Passionssatz, in dem natürlich das Handy einer Zuschauerin die Show zu stehlen versuchte. Doch das ist bei Op.106 geradezu unmöglich. Der von Beethoven mit der Metronomzahl 138 angegebene erste Satz ist unfassbar in seiner aufgeregten Hektik. Levit entschied sich zum Glück für weniger Schläge pro Minute, um die Musik greifbar zu machen. Sein Ansatz des Kontrastes blieb und so war es im dritten Satz geradezu meditativ und dann wieder groß und herzzerreißend. Die ewige Suche und das Finden konnte Levit zeigen und den Gewaltmarsch des vierten Satzes mit viel plötzlicher Eruption spielte er sehr perkussiv, mit Klavier und mit stampfenden Füßen, die sich gegen den Ausbruch nicht wehren konnten. Diese Sonate geht in den ganzen Körper, legt weite Strecken zurück, ist reine Überforderung für Spieler und Publikum. Nicht umsonst gibt es Standing Ovations und eine für alle entspannende Zugabe, die aus der Not der Hammerklaviersonate herausholt: Bachs Choralvorspiel zu „Oh komm‘ der Heiden Heiland“ in der Bearbeitung von Ferruccio Busoni. Ein nachdenklicher, melancholischer Abschluss eines Abends voller Aufregung und Gefühlsachterbahn.