Die Historie der wegweisenden dokumentierten Interpretationen der Goldberg-Variationen reicht weit zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Da wäre zunächst die polnische Cambalistin Wanda Landowska (1879-1959) zu nennen, die mit ihrer strengen textgetreuen Lesart den Weg ebnete für die legendären Aufnahmen des kanadischen Wahnsinns-Genies Glenn Gould. An diesen Aufnahmen orientieren sich mehr oder weniger alle nachfolgenden Künstler*innen. Ausgenommen in der jüngsten Vergangenheit Cameron Carpenter auf seiner Touring Orgel und freilich auch der Jazz-Pianist Uri Caine, die sich teils komplett vom Notentext und der klassischen Auslegung lösen, um die Goldberg-Variationen so quasi neu zu erfinden.
Und dann kam der 31-jährige französische Cembalo-Virtuose Jean Rondeau und lässt die Goldberg-Gemeinde aufhorchen. Er liefert eine Interpretation auf dem Cembalo, die unerhört innovativ, und doch eng am Notentext orientiert ist. Rondeau gelingt ein Geniestreich, indem er dekorative Elemente wie Ornamente und selbst Manieren vor allem in den von ihm sämtlich gespielten Wiederholungen quasi improvisiert, ohne dabei im modernen Wortverständnis manieristisch zu werden. Die Tempi der einzelnen Variationen setzt er entgegen althergebrachter Hörgewohnheiten oft zügiger oder deutlich langsamer an als erwartet, und arbeitet auch mit erheblichen Rubati. Jedoch stets unter Wahrung eines innerlich schreitenden Beats, der dem gesamten Variationszyklus zugrunde liegt. So gibt Rondeau die geraubte („rubato“) Zeit an anderer Stelle wieder zurück und es entsteht ein berückendes Gesamtkunstwerk, das den Hörer von der ersten bis zur letzten Note einmal an den Rand der Galaxie in unendliche Weiten mitnimmt, um ihn dann sanft wieder ins Jenseits zu befördern. Wenn auch mit einer Träne im Auge, weil alles ein Ende hat. Leider auch die Goldberg-Variationen.
Fast zwei Stunden benötigte Jean Rondeau für seine Darbietung des großartigsten Variationszyklus der Menschheitsgeschichte in der Münchner Allerheiligen-Hofkirche. Unendlich dichte Zeit voller Überraschungen und Faszination, aber auch meditativer Ruhe, in denen die raumgreifende Stille zwischen dem Anreißen der Saiten mehr Bedeutung gewinnt als die Töne selbst. Auch dies ein Merkmal des Spiels von Jean Rondeau. Es gelingt ihm, trotz der mechanisch-physikalischen Limitation des Cembalos den Eindruck von Legato und Portato zu vermitteln fast wie auf einem Konzertflügel, und selbst Crescendi und weite Bögen erschafft Rondeau durch seinen schieren Gestaltungswillen, der die schlichte Allerheiligen-Hofkirche bis in den letzten Winkel mit singendem Sinn erfüllte.
Um einige Höhepunkte der Rondeau’schen Darbietung herauszugreifen, so wären da die luftig-tänzerisch gespielte Gigue der Variation 6, die prallen Praller und Ornamente der Variation 9 und 10, die beredte Ruhe der 13. und 15. Variation, gefolgt von der pompösen französischen Ouvertüre (Variation 16), die den zweiten Teil eröffnet. Fast fühlte man sich an den Hof Ludwigs XIV. versetzt und lauschte den brausenden Trillergewittern und feinfühligen Läufen. In Variation 20 erlaubte sich Jean Rondeau raumgreifende Rubati vor allem zu Beginn der zweiten Hälfte, ohne sich jedoch dem Publikum anzubiedern. Im Gegenteil, ein ums andere Mal gewann man neue Perspektiven auf die bekannte Materie erschauderte ob der Faszination der Kontrapunktik des Johann Sebastian Bach, kompromisslos streng und doch unendlich kühn. Das Adagio der Variation 25 episch und sanglich, in Variation 26 wieder stattliche Ornamente präzise aus dem Cembalo gestanzt, als ob derweil Lully mit seinem Taktstock klopft. Eine kleine Konzentrationsschwäche am Ende der 27. Variation tat dem Genuss keinen Abbruch und nach dem letzten Ton der Aria gab es zunächst nichts als minutenlange Stille, gefolgt von tosendem Applaus.
Der Dirigent George Szell, selbst ein großartiger Pianist, soll einmal gesagt haben, das Cembalo klänge wie zwei kopulierende Gerippe auf einem Blechdach. Wenn es schon Gerippe auf einem Blechdach sein müssen, dann singen bei Jean Rondeau die beiden Skelette bezirzende Melodien im Belcanto, denen sich nicht einmal Odysseus hätte entziehen können