Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, hat mich im Hinblick persönlicher Prägung Bach'scher Kantatenrezeption besonders Sir John Eliot Gardiner angesteckt, mit dessen Bach Cantata Pilgrimage im Festjahr 2000 ich durch die nach und nach auf den Markt gekommenen CDs quasi zu fast allen erhaltenen geistlichen Werken des Genres vorgedrungen bin. Für diese Ausgabe kam mir in Erinnerung, dass ich rein logisch als erstes die vorhandenen Einspielungen des britischen Bachkenners besaß, die bereits vor der Reise im Jahr 1999/2000 produziert worden waren.
Darunter die Trauerode Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl, BWV198. In post-wallfahrtlicher Realisierung führte Gardiner sie unter anderem beim Wratislavia Cantans Festival 2007 auf. Und zwar – erstmals in dessen Festivalgeschichte – in der beeindruckenden protestantischen Vollholzkirche (die Katholiken erlaubten den Lutheranern dort nur diesen Baustoff) in Świdnica (siehe Hörbeispiel 1); jener drei der evangelischen kleinen Gemeindeminderheit „zugebilligten“ bestehenden Friedenskirchen des Westfälischen Status von 1648 im erzkatholischen Polen, die ich bei meinem ersten Breslau-Besuch im europäischen Kulturhauptstadtjahr 2016 bestaunte und just seit dem großen Bachjahr 2000 Austragungsort eines eigenes Bachfests ist.
Dies erwähne ich, weil der Entstehungsgrund der Kantate gewisse Verbindungslinien zu Staatsreligion, Gebiet und Geschichte bereithält. Die Universitätsleitung in Leipzig beauftragte den Thomaskantor Bach mit der musikalischen Gestaltung der Gedenkveranstaltung in der hauseigenen Paulinerkirche anlässlich des Todes von Christiane Eberhardine von Brandenburg-Bayreuth, der Gattin des sächsischen Kurfürsten August des Starken, abgehalten am 17. Oktober 1727. Obwohl Polen oben genannte kleine Zugeständnisse an die im Land lebenden Protestanten machen musste, blieb es bei der Pflicht, auf dem Thron katholischer Konfession zu sein – wie natürlich vor der Reformation in dem vom Kaiser dem Meißener Mark- und Thüringer Landgrafen Friedrich IV. zugeteilten Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg des 15. Jahrhunderts, ehe nach der Abspaltung des Wettiner-Geschlechts die sogenannte Ernestinische Linie Luther auf der Wartburg in Bachs Heimat Eisenach Schutz gewährte und später auch die Albertinische Linie ihren Glauben wechselte.
Somit war mit der Wahl Augusts zum König von Polen 1697 verbunden, den in der Zwischenzeit durch alle etablierten evangelischen Glauben wieder abzulegen. Titularkönigin Christiane folgte dem allerdings nicht und verbrachte ihre Zeit der sächsischen Regentschaft Polens im „Exil“ an der Dresdner Elbe. Neben zwingend ehrerbietiger Schmeichelei und untertäniger Würdigung von Todes wegen könnte dies der Grund für das reformationsprotestantische Sachsen mit Textdichter Johann Christoph Gottsched gewesen sein, die Kurfürstin als „Heldin“, „Fürbild großer Frauen“ und [auch wahre, wahrhaftige, eigentlich rechtmäßige] „Königin“ in der odlichen Verabschiedung anzusprechen.
Darüber hinaus entsteht die zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung durch den intimen, bescheidenen und doch besonders royalen Spin der musikalischen Geschicklichkeit Bachs. Besetzungstechnisch gelingt ihm das mittels der Verwendung der königlichen, himmelauffahrenden und totenglöcklichen Instrumente der Traversflöte (zweifach), traditionell der Basslaute (zweifach) und der Gambe (ebenfalls zweifach, unerlässlich bei Trauermusiken, zumal Bach nach bisheriger Rekonstruktionslage Auszüge nochmals in der verschollenen Markuspassion von 1731 und der Köthener Trauermusik auf Bestandteile der Matthäuspassion verwendet), die den üblichen Kleinapparat von zwei Violinen, Viola und Basso continuo sowie der zweifachen – ebenfalls klassischen – Oboe d'amore als namensoffensichtliche Zeichen der Liebe erweitern (Hörbeispiel 2 mit nicht ganz originaler Besetzung).
Konkret musikalisch webt Bach in elefantischem Gedächtnis passender Notenteilstücke in der Tenor-Arie „Der Ewigkeit saphirnes Haus“ Takte aus seiner zuvor komponierten Grab-Kantate BWV56 ein. Sonst hält er sich an weitgehend Formales: die zehnsätzige Ode steht in der Grundtonart h-Moll und enthält alle lautmalerischen Elemente im Aufgriff des Textes und symbolischen Marker des Anlasses, wie tränenreiche Abstiege sowie weitere harmonische Trauer- und Schmerztrigger, tröstliche Aufgänge oder die geordnete, in die Gruft hinablassende Reihenfolge des Abschiednehmens von Sopran bis Bass.