In Árpád Schillings Inszenierung an der Oper Stuttgart hätten die Männer von Brabant nicht auf Gott hoffen müssen, als sie einen Helden herbeisehnten, der die Unschuld von Elsa im Zweikampf mit Graf Telramund beweisen sollte. Denn bei ihm kommt jener Held, dessen Name Lohengrin niemand erfahren soll, nicht aus der hehren Gralsgesellschaft, schon gar nicht in einem von einem Schwan gezogenen Nachen über das Wasser, sondern aus ihrer eigenen Mitte. Und der Mann, der sich da plötzlich in der neuen Rolle sieht, will das Amt erst einmal gar nicht. Schilling zeigt eine Gesellschaft, die hochgradig verunsichert ist und händeringend eine Führungsfigur sucht. Kaum ist sie gefunden, wirken die Herren – denn die Frauen haben in dieser Gesellschaft kaum etwas zu sagen – erleichtert, schließlich kann der Neue es ja jetzt richten. Das ist in einer Zeit eines zunehmenden Populismus sehr aktuell.
Mit dieser Grundkonstellation gelingt dem Regisseur ein in sich logisches Gesellschaftspanorama. Hier interessiert weniger eine Beziehungsgeschichte zwischen Elsa und dem Fremden, hier interessiert, wie eine Gesellschaft auf Probleme reagiert; und angesichts der Präsenz des Chores in dieser Oper hätte sie gut und gerne auch Die Männer von Brabant heißen können. Der Stuttgarter Staatsopernchor blieb der Herausforderung nichts schuldig, jede Nuance wurde ausgestaltet, klangschön und ausdrucksstark intoniert, selbst im lautesten Fortissimo stets genau durchhörbar; er bewies wieder einmal, dass er mit gutem Recht zum inzwischen elften Mal „Opernchor des Jahres“ geworden war. Szenisch freilich weiß Schilling mit ihm meist wenig anzufangen, allzu statuarisch stehen die Sänger über weite Strecken im Halbkreis auf der Bühne oder in einer Gruppe in der linken Ecke.
Subtil das Geschehen im Orchestergraben. Der neue Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister traf genau jene heikle Mischung aus gewaltiger Dramatik und stiller Poesie, ja sakralem Geheimnis des fremden Gralsritters. Und der, kaum hat er sich in die ihm aufgedrängte Rolle eingefunden, bewirkt Segensreiches. Die Männer, zuvor gedrückt in grauen Anzügen, antriebslos, erwachen zu neuem Leben. Und auch bei den Frauen geht eine Veränderung vor, denn Elsa ist eben nicht nur die keusche „Reine“, als die sie anfangs erscheint, sie weiß mit ihrem Wunsch nach einem rettenden Helden durchaus ihre Position zu verfechten, und sie muss sich gegen mächtige intrigante Gegner wehren, und dies in der Stuttgarter Produktion auch stimmlich. Martin Gantner entwickelte für seinen Telramund das Psychogramm eines Mannes, der von seiner Frau Ortrud zu Ehrgeiz angestachelt wurde und nun versucht, diese Rolle auszufüllen, und dabei über das Ziel hinausschießt. Mit seinem hellen Bariton gestaltete er faszinierend, wie Unsicherheit in betonte Zielorientiertheit umschlagen kann. Und Okka von der Damerau gelang als Ortrud stimmlich differenziert die Gratwanderung zwischen Einschmeichelungsversuchen bei Elsa und hochfahrender Siegesgeste.
Dem wusste Simone Schneider eine Elsa entgegenzusetzen, die zwar stimmlich lyrisch die Gute, Edle überzeugend darstellte, doch auch zu hochdramatischen Ausbrüchen in der Lage war, eine Meisterleistung ohne jeden Makel, die Michael Königs Lohengrin mit seiner grandiosen Mischung aus lyrischem Timbre und metallischen Spitzentönen fast erreichte. Lediglich in der Gralserzählung zeigten sich kleine Schwächen, die aber dem Umstand geschuldet waren, dass er die heikle Passage im Sitzen zu singen hat.
Diese sängerischen Figurengestaltungen entsprechen ganz Schillings Regiekonzept. Mit Lohengrin und Elsa zieht eine Verwandlung durch die Gesellschaft. Die Frauen ergreifen Initiative – angeregt durch Elsa – und ziehen den Männern die grauen Anzüge aus. Darunter kommt eine legere Alltagskleidung zum Vorschein. Jeder kann nun Individuum sein, er selbst sein.
Natürlich kommt auch Schilling nicht um den Gral herum, wie er in der Gralserzählung geschildert ist, doch ist er bei ihm eher eine Utopie, der Wunschgedanke, dass eine hehre Sphäre existieren könnte, wäre die Welt mit den Menschen nicht, wie sie eben ist. Nur mit dem Schwan und der damit verbundenen Mysteriensphäre hat Schilling kleine Probleme. So hätten nicht unbedingt Schwäne auf einem Bach aus blau gefütterten Mänteln drapiert werden müssen. Doch der Beginn der Schwansgeschichte ist fulminant: Lohengrin überreicht Elsa einen Spielzeugschwan – Ortrud erschrickt, sie weiß, dass er darauf anspielt, sie habe Elsas Bruder in einen Schwan verwandelt, und Elsa ahnt etwas, deutet fragend mit einer Handbewegung die Größe ihres Bruders an, als er verschwand.
Am Ende erlaubt die Entzauberung des Titelhelden in dieser Inszenierung dem Regisseur noch eine grandiose Wendung. Das Volk, seines neuen Führers beraubt, wendet sich drohend Elsa entgegen, die es für den Verlust verantwortlich macht. Und wenn Lohengrin in der Menge, aus der er zu Beginn gekommen war, verschwindet, dem Volk zuruft: „Seht da den Herzog von Brabant“, ist bei Wagner damit Elsas heimkehrender Bruder gemeint, bei Schilling jedoch greift sich Ortrud, auf einem Podest stolzierend, den erstbesten Mann aus dem Volk und zieht ihn zu sich herauf. So macht man politische Führer, wenn man die Führung nicht selbst ausüben kann!