Das zweite Programm des Klangforum Wien im Rahmen der Ruhrtriennale 2019 war mit seinen zwei Hälften von jeweils vier Kompositionen und drei Umbaupausen wie schon am Tag zuvor außergewöhnlich lang. Rosen aus dem Süden, ein Walzer von Johann Strauß, war in einer ungebräuchlichen Bearbeitung von Arnold Schönberg für Streichquartett, Klavier und Harmonium auf dem Programm gelandet. Die Arrangements waren für einen kurzfristig anberaumten Walzer-Abend des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen entstanden und wurden nach diesem einmaligen Konzert meistbietend versteigert.
Das Konzert, beginnend mit dem Lagunenwalzer, wurde von Sylvain Cambreling gewissenhaft dirigiert. Die Aufführung hatte einen Schwung, der aber durch den analytischen Blick von sowohl Publikum als auch Ausführenden in Grenzen gehalten wurde. Ein Zusammenhang mit den übrigen Kompositionen ausschließlich italienischer Komponisten auf dem Programmzettel wurde im Verlauf des Konzertes leider nicht deutlich.
Die hierauf folgende Uraufführung von The lost horizon von Martino Traverso begann mit einem Paukenschlag. Der helle durchdringende Trompetenklang des Solisten Anders Nyqvist bildete den roten Faden durch oft drohende Ensemblebegleitung. Jazzige Figuren oder Klangentdeckungen auf kleinstem tonalen Raum zelebrierte Nyqvist sorgsam und ohne Effekthascherei. Zu bezaubernder Traum-Atmosphäre konnte Nyqvist unendlich sanfte Töne beitragen, welche mit den Klängen seiner regelmäßig unisono spielenden Musikerkollegen verschmolzen. Das zehnminütige Stück verabschiedete sich gespenstisch langsam leiser werdend im Nichts.
Anton Weberns zweisätzige Symphonie ist trotz aller Modernität ein klassisch gestaltetes Musikstück. Schon die Aufstellung der Instrumente mit links Klarinette und Bassklarinette, rechts zwei Hörnern und in der Mitte einem Streichquartett, strahlte Symmetrie aus. Auch die von Webern konstruierte Zwölftonreihe war symmetrisch. Das erste Horn begann diese Reihe hell und klar, und es entfaltete sich ein sehr durchsichtiges Musizieren. Das Klangforum beeindruckte mit konzentriertem präzisem Vortrag, wodurch Weberns Symphonie so überraschend lebendig klang.
Das längste Stück dieses Abends, Pierluigi Billone‘s Ebe und Anders erklang noch vor der Pause. Billone war ein Schüler von Salvatore Sciarrino und hatte sein 2014 uraufgeführtes Ensemblestück den Solisten Andreas Eberle und Anders Nyqvist gewidmet. In der Essener Aufführung spielte Mikael Rudolfsson den Posaunenpart. Auch hier war die Aufstellung symmetrisch: die zwei Solisten saßen auf der linken und rechten Seite der Bühne, dazwischen waren E-Gitarre, Klavier und Cello aufgestellt, während zwei Schlagzeuger mit jeweils einem kleinen Gong um den Hals in der zweiten Reihe hinter Marimba und Xylophon standen. Nach anfänglichem Schlagzeugkrach und extrem hohen Tönen des Cellisten Benedikt Leiter und kurzer Stille begann Nyqist seinen Solopart auf dem Flügelhorn mit unnachahmlich sonoren Statements und auf der Stelle kreisenden fragenden Motiven. Die Schlagzeuger produzierten dazu spirituelle Geisterbeschwörung und wilde Ausbrüche. Einen starken sowohl visuellen als auch auditiven Effekt hatte das sich während des Spielens Auf- die- Brust-schlagen von Nyqvist. Rudolfsson spielte lange Zeit sehr leise und tief entspannte Töne, kam aber später auch sehr virtuos und mit großem Ton zur Geltung. Die Gitarre sorgte mit viel unterschiedlichen verschiedenen Geräuscheffekten für undefinierbare Spannung. In der Mitte des 25 Minuten dauernden Stückes gab es einen Wettkampf zwischen Trompete und Posaune, welchen Cello auf liebevoll kommentierte. Vor allem dessen superleise Ponticello-Töne gaben eine packenden Kontrast zur Urgewalt der beiden Blechbläser.
Puccini’s Crisantemi sind bei Amateurstreichquartetten bekannt und beliebt. Das kurze Stück hat Hand und Fuß, lässt alle Instrumente mit schönen Soli zu voller Entfaltung kommen und begeistert jedes Publikum mit den herrlichen Melodien der ersten Geige. Auch hier trug trotz einwandfreiem Spiels wie bei den Strauß-Walzern der Blick zurück in die musikhistorische Vergangenheit wenig zum Verständnis der anderen zeitgenössischen Stücke bei.
Clara Iannotta hatte mit D’après ein rhythmisch und klanglich sehr interessantes Stück für sieben Musiker geschrieben, welches diese sehr schwungvoll musizierten. Dem Programmbuch war zu entnehmen, dass Iannotta sich von den Klängen der 19 Glocken des Freibuger Münsters hatte inspirieren lassen, aber auch ohne diese Hilfestellung überzeugte ihre Musik.
Salvatore Sciarrino gehört zu den bekanntesten lebenden italienischen Komponisten, obwohl er als Autodidakt zu komponieren begann. Sein Archeologia del telefono aus dem Jahre 2005 begann im typisch geheimnisvollen Sciarrino-Stil spannend, flirrend und geheimnisvoll. Kontrabassist Endika Rodriguez setzte ein wohlklingendes fragendes Motiv ein, das während der Dauer des Stückes von ihm und dem Cello immer wieder wiederholt wurde, bevor elektronische Klänge die Oberhand gewannen. Mit Rosen aus dem Süden endete ein langer ereignisreicher Konzertabend.