Chowanschtschina ist ein Gesamtkunstwerk; ein Volksdrama, eine Art musikalischer Historienroman und ein gewaltiges Stück Arbeit für alle Beteiligten, das trotz seiner epischen Breite (fünf Aufzüge, knapp vier Stunden) eine ebenso bereichernde Erfahrung wie der Ring des Nibelungen sein kann. Wer auch nur einen Funken Interesse für russische Kultur und Geschichte aufbringt, sollte diese Oper zumindest einmal erleben.
Mit dem Ring teilt Chowanschtschina ein Finale im Feuer und einen Beginn mit Wasser (wobei Mussorgsky die Sonne über der Moskwa in E-Dur aufgehen lässt und Wagner die Tiefen des Rheins in Es-Dur malt) – und bei beiden erzählt sich die Handlung nur mit einem langen Atem. Für die „Affäre Chowanski“ oder die „Chowanskerei“ muss hier der Hinweis genügen, dass in der Oper die Geschehnisse der Moskauer Strelitzenaufstände von 1682 und 1698 bühnenwirksam verschmelzen und mit ein wenig (erdichtetem) Privatleben von Vater Iwan und Sohn Andrei Chowanski garniert sind:
Chowanski senior hat in Moskau das Sagen und scheint für russische Verhältnisse im Russland des 17. Jahrhunderts ein Mann der Mitte und damit der aussichtsreichste Kandidat im Ringen um die Macht nach dem Tode von Zar Fjodor III. zu sein, wenn er auch mit dem Suff in seiner Truppe Probleme hat. Er fällt einer Denunziation des Fjodor Schaklowity zum Opfer, dessen Mannen ohnehin vor keiner Grausamkeit zurückschrecken. Auch Fürst Golizyn geht über Leichen, obwohl er von den Vorgenannten der fortschrittlichste, aus damaliger russischer Sicht also „europäischste“ ist. Dieses Trio ergänzt sich zum Quartett durch den ultraorthodoxen Eiferer Dossifei, der seine Anhänger im religiösen Wahn zur Selbstverbrennung treibt. Zu diesen Sektierern gehört auch die Wahrsagerin Marfa; sie besteigt den Scheiterhaufen zusammen mit Chowanskis Sohn Andrei, von dem sie einst geliebt, aber dann verstoßen wurde.
Als diese vielschichtige Figur beeindruckte die Mezzosopranistin Elena Maximova, wiewohl ich persönlich eine Altistin für diese Partie bevorzugen würde. Von den weiblichen Nebenrollen war Susanna mit Lydia Rathkolb besser besetzt als Emma, für die Caroline Wenborne etwas schrille Töne fand. Als Andrei stellte ihr Christopher Ventris nach, wobei dieser stimmlich seine gewohnte Leistung zeigte, aber sonst ungewohnt blass wirkte, während Herbert Lippert im Rahmen seiner Möglichkeiten positiv überraschte. Von den Herren in den kleineren Partien ist die Darstellung des Schreibers durch Norbert Ernst hervorzuheben. Als Schaklowity gab Evgeny Nikitin ein gelungenes Hausdebüt, das aber im Jubel um die großen Basspartien des Dossifei (exzellent: Ain Anger) und des Iwan Chowanski ein wenig unterging. Als letzterer gab der Russe Dmitry Belosselskiy ein glänzendes Rollendebüt an der Staatsoper und erfüllte meine hohen Erwartungen, die ich von früheren Auftritten in ihn hatte.
Man wünscht sich, ihn in Wien öfter zu sehen, gern auch wieder als Iwan Chowanski, wenn auch in einer anderen Inszenierung als jener seines Landsmannes Lev Dodin, welcher bei der Premiere letztes Jahr (mit Ferruccio Furlanetto in der Titelpartie und Semyon Bychkov am Pult) die Bühne aus gutem Grund nicht betrat: Die Reaktionen auf seine Regie reichten und reichen von „schwarzes Loch“, „Requiem“ und „Hydraulikregie“ bis hin zu Zu ebener Erde und erster (zweiter, dritter) Stock, wiewohl der letzte Vergleich Nestroy Unrecht tut. Dodin selbst meinte damals im österreichischen Fernsehen, Mussorgskys Musik sei für ihn so monumental, dass realistische, alltägliche Bewegungen und Handlungen nur lächerlich wirken würden.
Das ist ein interessanter Ansatz, aber wenn sich dessen Umsetzung in der Choreographie von Hebebühnen in einem Baugerüst erschöpft, ist nur das Logistikproblem der Auf- und Abtritte der Chöre gelöst, aber ansonsten niemandem gedient. Gerade die 145 Chorsängerinnen und -sänger (dazu muss der Staatsopernchor verstärkt werden, in diesem Fall durch den Slowakischen Philharmonischen Chor), welche in Chowanschtschina in Divisionen der Chowanski-Mannen, der Sektierer usw. antreten, haben am meisten unter der Enge des Gerüstkäfigs zu leiden, und das Bild von den Sardinen in der Dose drängt sich auf (oder in diesem Fall: von den Russen, wie wir Österreicher marinierte Heringe nennen). Da erstaunt es nicht, dass die Damen – bei insgesamt sehr erfreulicher Chorleistung – gegen Ende schon so müde schienen wie Mütterchen Russland des Blutvergießens.
Insgesamt war die musikalische Seite des Abends speziell aufgrund der erwähnten Sololeistungen sehr lohnend. Mussorgskys pointierte Rhythmik und die nicht minder gekonnt gesetzten musikalischen Dialoge sind ebenso wie die expressionistischen Farben von Schostakowitschs Instrumentierung ohnehin ein Genuss, und James Conlon sorgte am Pult des Staatsopernorchesters für mehr als adäquate Umsetzung, wiewohl einige Einsätze etwas barsch ausfielen. Diese Kleinigkeiten dürften aber dem Repertoirebetrieb und dem damit verbundenen Mangel an Probemöglichkeiten geschuldet sein. Das ist allerdings bei einem Werk, das den Erfordernissen eben dieses Repertoirebetriebs in keinerlei Hinsicht entspricht, kaum zu vermeiden, und letztendlich können nur große Häuser wie die Staatsoper den Aufwand der Chowanschtschina stemmen. Diese auf die Bühne zu bringen ist schon per se ein Verdienst.