München zählt für Operntouristen zu den beliebtesten Zielen in Europa, und der Grund ist offensichtlich: Im Repertoiresystem der Bayerischen Staatsoper wechseln Produktionen so häufig, dass man nur ein paar Tage in München verbringen und im Nationaltheater trotzdem etliche Opern sehen kann. Jedes Jahr zeigt das Opernfestival im Juli die Neuproduktionen ein weiteres Mal, zusammen mit Wiederaufnahmen der besten Produktionen vorheriger Spielzeiten, oft in luxuriöser Besetzung. Wo sonst würde man Ambrogio Maestri – der weltweit führende Falstaff – in der vergleichsweise kleinen Rolle des Fra Melitone sehen, dem jähzornigen Mönch in Verdis La forza del destino? Wenn Anja Harteros und Jonas Kaufmann die Rolle der Protagonisten übernehmen, kann man verstehen, warum auch eine Wiederaufnahme großen Besucherandrang bekommt.

Im Zentrum der Spielzeit der Staatsoper stehen sechs neue Operninszenierungen am Nationaltheater von Rossini bis Schreker. Donizettis La Favorite ist die erste Premiere der Saison, gespielt in der originalen, französischen Fassung. Donizetti war dabei, Le Duc d'Albe für die Pariser Oper zu komponieren, als deren Direktor, Léon Pillet, sich beklagte, dass es darin keine Hauptrolle für Rosine Stoltz (seine Geliebte) gab. Donizetti gab prompt die Arbeit an Le Duc d'Albe auf (und vollendete die Oper nie) und komponierte La Favorite zu einem Libretto von Alphonse Royer und Gustave Vaëz. Ironischerweise war die Mezzo-Rolle der Oper, Léonor de Guzman, ebenfalls eine Geliebte – die Favoritin von Alphonse XI, König von Kastilien. Léonor ist jedoch in Fernand verliebt, der zu Beginn der Oper als Mönch im Dienst der Kirche steht! Es ergibt sich eine verworrene Dreiecksbeziehung, gewürzt mit Eifersucht und Missverständnissen, die kein glückliches Ende nimmt. Die Belcanto-Rolle der Léonor wird von Mezzosopranistinnen hoch geschätzt und passt perfekt zu Elīna Garančas samtiger Stimme. Sie hat die Rolle bereits bei den Salzburger Festspielen und an der Deutschen Oper Berlin gesungen und die Arie „O mon Fernand“ aufgenommen (hier in der italienischen Fassung):

Amélie Niermeyer, die zuvor am Salzburger Landestheater Regie geführt hat, leitet diese Neuproduktion mit Starbesetzung, einschließlich Mariusz Kwiecień und Matthew Polenzani als Léonors Angebetete.

Belcanto einer anderen Art bringt Rossini. Semiramide war seine letzte italienische Opera seria, uraufgeführt 1823, und ihr Ausmaß gleicht dem eines biblischen Epos. Semiramide, Königin von Babylon, hat versprochen, einen Nachfolger für den Thron zu verkünden, und die Oper befasst sich mit den Rivalitäten – politischer wie romantischer Natur –, die dem folgen. Es ist ein Paradestück für außergewöhnliche Sänger.

Die Titelrolle wurde für die große Isabella Colbran verfasst, die oft als dramatischer Koloratursopran beschrieben wird – eine perfekte Beschreibung von Joan Sutherland, die als Semiramide unvergleichlich war. Viele Kommentatoren allerdings weisen auch auf Colbrans außergewöhnlich großen Stimmumfang hin, vom kleinen Fis zum dreigestrichenen E und manchmal sogar F, und deuten an, dass sie ein Mezzo mit großer Höhe gewesen sein konnte. Zeitgenössische Berichte beschreiben Colbrans „liebliche, weiche“ Mittellage. Mezzo-Superstar Joyce DiDonato gibt ihr Rollendebüt als Semiramide in David Aldens Neuinszenierung, neben glänzenden Belcanto-Sängern wie Lawrence Brownlee und Daniela Barcellona.


Treue Jonas Kaufmann-Fans werden ihn bereits in David McVicars neuer Produktion von Andrea Chénier für Covent Garden in der Hauptrolle gesehen haben. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Inszenierung des Film- und Opernregisseurs Philipp Stölzl dieser Giordano-Oper, die sich während der Französischen Revolution abspielt, so brav-traditionell wie McVicars sein wird. Chénier, ein idealistischer Dichter, wird in die Revolution verwickelt und gerät mit einem ihrer Anführer, Carlo Gérard, aneinander, der Chénier als potentiell gefährlichen Feind betrachtet und auch als Rivale um die Zuneigung von Maddalena de Coigny. Stölzl vereint Münchens „Traumpaar“ mit Anja Harteros in der Rolle der Maddalena; der italienische Bariton Luca Salsi singt Gérard.

Harteros ist zudem in einer weiteren Oper zu sehen: Romeo Castelluccis Inszenierung von Wagners Tannhäuser. Passend für eine Oper über einen Gesangswettbewerb und Tannhäusers Hin- und Hergerissensein zwischen der reinen Elisabeth und den sexuellen Reizen der Venus sind auch diese Rollen mit wunderschönen Stimmen besetzt. Neben Harteros stehen auch Klaus Florian Vogt (hier für sein wunderschönes Pianissimo und eine herrliche Kantilene“ gepriesen) und Christian Gerhaher auf dem Besetzungszettel, dessen „flötender Gesang und seidige legato-Linien“ freigiebig für die Rolle Wolfram in London eingesetzt wurden.

Schostakowitschs düstere Lady Macbeth von Mzensk beschreibt die verzweifelten Taten einer Frau im Russland des 19. Jahrhunderts, die in einer lieblosen Ehe gefangen ist. Trotz anfänglich großen Erfolgs wurde die Oper 1936in der Prawda als „Chaos statt Musik“ denunziert, nachdem Stalin eine Vorstellung besucht hatte; danach wurde das Werk in der Sowjetunion verboten. Harry Kupfer inszeniert diese unglaublich kraftvolle Oper mit Anja Kampe in der Rolle der unterdrückten Hausfrau Katerina Ismailowa.

Die spannendste Neuinszenierung dieser Spielzeit ist jedoch Franz Schrekers Die Gezeichneten. Es ist eine dunkle Geschichte um einen Buckligen, Alviano Salvago, der für die Menschen von Genua in einer geheimen unterirdischen Grotte eine zwielichtige Paradiesinsel geschaffen hat, genannt „Elysium“. Carlotta, Tochter des Stadtrichters, ist von Alviano fasziniert und möchte „seine schöne Seele malen“, doch sie wird wiederum von Graf Tamare begehrt, der versucht, sie zu entführen. Schrekers üppige Musik verdient es, bekannter gemacht zu werden. Sein Orchesterwerk Vorspiel zu einem Drama greift Musik aus Die Gezeichneten auf:

Diese Premiere wird in einer Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski gezeigt, mit John Daszak als Alviano, Catherine Naglestad als Carlotta und Christopher Maltman als Tamare.

Die Staatsoper teilt sich die Bühne des Nationaltheaters mit dem Staatsballett, wenngleich es keine genau gleichwertige Partnerschaft ist, denn es gibt weit weniger Tanz- als Opernvorstellungen. Es werden jedoch zwei neue Stücke gezeigt: Spartacus, Aram Khachaturians spektakuläres Ballett, wurde zum ersten Mal 1954 am Bolschoi aufgeführt. Auszüge der Musik sind in der Zwischenzeit durch Konzerte bekannt geworden, doch Yuri Grigorovich bietet den Tänzern – und besonders dem der männlichen Titelrolle – Großartiges.

Alice im Wunderland ist ein viel neueres Werk,2011 von Christopher Wheeldon für das Royal Ballet kreiert. Es ist voll von gewitzter Choreographie – eine urkomischen Parodie des Rosenadagios aus Dornröschen für die Herzdame – und klugen Spezialeffekten, einschließlich der Szene, in der Alice in den Kaninchenbau purzelt.

Joby Talbots ansprechende und innovative Musik macht dabei unheimlichen Spaß. Ein weiterer Höhepunkt im Bereich Tanz steht auf dem Programm, wenn das Moskauer Stanislavsky Ballet John Neumeiers A Midsummer Night’s Dream an das Nationaltheater bringt.

Noch bevor die neue Opernsaison beginnt, nimmt Generalmusikdirektor Kirill Petrenko sein Orchestra mit einem Wagner- und Straussprogramm mit auf Europa-Tournee. Mit von der Partie wird auch die Münchner Favoritin Diana Damrau sein, die Strauss' Vier Letzte Lieder singt.

Zu den Wiederaufnahmen, nach denen man in der kommenden Spielzeit Ausschau halten sollte, zählen Die Meistersinger (wieder Kaufmann), Halévys La Juive, die gerade erst Premiere hatte und wieder mit Roberto Alagna und Aleksandra Kurzak lockt, Boitos Mefistofele, diesmal mit Erwin Schrott in der Titelrolle, sowie Miroslav Srnkas neue Oper South Pole, abermals mit Rolando Villazón und Thomas Hampson als Scott und Amundsen im Wettlauf zum Pol.

Hier finden Sie alle Veranstaltungen der kommenden Spielzeit.



Dieser Artikel entstand im Auftrag der Bayerischen Staatsoper.

Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.