Seit 1948 strömen Besucher im Hochsommer in den Süden Frankreichs zum Festival d’Aix-en-Provence. Im letzten Jahr besuchten 81.000 Hörer dessen Veranstaltungen, die von internationalen Kritikern sehr gelobt wurden. Bernard Foccroulle, Festivaldirektor seit 2007, hat dem eine klare Vision vorangestellt. Opern von Mozart sind eine Grundzutat – ebenso wie die Händels – und es gibt eine starke Tradition, neue Werke zu präsentieren. Die Verbindung mit dem amerikanischen Theaterdirektor Peter Sellars wird fortgesetzt, ebenso die Zusammenarbeit mit der Britischen Regisseurin Katie Mitchell, die für Debussys enigmatische Oper Pelléas et Mélisande nach Aix kommt.
Der Grund, aus dem einem bei dieser Produktion von Pelléas im Grand Théâtre de Provence das Wasser im Munde zusammenläuft, ist der, dass das Londoner Publikum bereits einen kleinen (Audio-)Vorgeschmack bekommen hat. Im November dirigierte Esa-Pekka Salonen die Philharmonia in einer brillanten konzertanten Aufführung des Werkes, halbszenisch mit wirkungsvoller Beleuchtung. Drei der Sänger aus dieser Aufführung – Stéphane Degout (Pelléas), Laurent Naouri (Golaud) und Chloé Briot (Yniold) – tun sich abermals mit Salonen und seinem Orchester zusammen. Was Katie Mitchell zu Debussys Vertonung von Maeterlincks symbolistischen Stück mitbringt, wird faszinieren. In einem Wald entdeckt Golaud die mysteriöse Mélisande. Er bringt sie als seien Braut zum Schloss seines Großvaters, König Arkel von Allemonde. Doch Mélisande bandelt mit Pelléas an, Golauds jüngerem Halbbruder, und schürt Golauds Eifersucht. Mitchell ist regelmäßig Gast in Aix; ihre packende Inszenierung von Written on Skin ist seitdem um den Globus gereist und Alcina des letzten Sommers wurde als „ein Meisterkurs in Händel'scher Bühnenkunst“ beschrieben.
In diesem Jahr gibt es von Händel keine Opern, aber eines seiner vielen Oratorien: Il trionfo del tempo e del disinganno . Die Komposition des 22-jährigen Händel zu einem Text von Kardinal Benedetto Pamphili behandelt vier allegorische Figuren – Beauty (Schönheit), Pleasure (Vergnügen), Time (Zeit) und Truth (Wahrheit). Die Schönheit betrachtet sich im Spiegel, nimmt die Versicherung des Vergnügens an, dass ihre Schönheit immer währt, doch Zeit und Wahrheit bezweifeln dies. Beide Seite beginnen einen philosophischen Kampf für die Seele der Schönheit. Im Freilufttheater Théâtre de l'Archevêché sieht Regisseur Krzysztof Warlikoswki diese Figuren mit den Augen einer Gruppe von Teenagern, die die Bühne zusammen mit den vier Figuren bevölkern werden. Händels Musik ist vollgepackt mit solch wunderbaren Einfällen, dass er sie später recycelte; am berühmtesten ist die Arie „Lascia la spina“, die später zu „Lascia ch'io pianga“ in Rinaldo wurde. Emmanuelle Haïm dirigiert Le Concert d’Astrée und ein fantastisches Sängerquartett, bestehend aus Michael Spyres, Sara Mingardo, Franco Fagioli und der wunderbaren französischen Sopranistin Sabine Devieilhe, die 2011 die rolle der Serpetta in Mozarts La finta giardiniera in Aix gesungen hat.
Wie zynisch ist Così fan tutte? Mozarts und da Pontes Oper bietet ein breites Interpretationsspektrum. Die Soldaten Ferrando und Guglielmo schließen mit dem listigen Don Alfonso eine Wette über die Treue ihrer Freundinnen ab, den Schwestern Dorabella und Fiordiligi. Mithilfe von Despina, der Magd der Mädchen, und „albanischer“ Verkleidung für die Soldaten manipuliert Alfonso die Situation, mit dem Ergebnis, dass jede Schwester sich in den Verlobten der jeweils anderen verliebt. Was wie eine alberne Komödie klingt, besitzt eine dunkle Seite, auf der der Hörer die Rolle und Motive einer jeden Figur hinterfragt. Christophe Honoré ist als Filmregisseur weitaus bekannter als für seine Arbeit auf der Opernbühne (er inszenierte im Juni letzten Jahres Pelléas und Mélisande an der Opéra de Lyon), und dies ist sein erster Auftrag für Aix sowie seine erste Mozart-Oper. In Così versetzt Honoré die Handlung von Neapel ins koloniale Eritrea unter Mussolini. Das Ergebnis könnte spannend werden.
Peter Sellars' Doppelvorstellung von Iolanta und Perséphone war ein großer Erfolg im letzten Sommer. Sellars' setzt seine Strawinsky-Expedition in dieser Spielzeit mit einer weiteren Doppelvorstellung fort, in der er mit Oedipus rex und der Psalmensymphonie diesmal Oper und Oratorium kombiniert. Esa-Pekka Salonen dirigiert und Violeta Urmanas Jocaste steht an der Spitze der Rollenbesetzung. Salonen leitet zudem ein Orchesterkonzert mit Strawinskys Musik, einschließlich Agon und Le sacre du Printemps.
Die Uraufführung von Ondřej Adámeks Seven Stones findet im Théâtre du Jeu du Paume statt. Es ist eine a capella-Oper über einen Mineralogen auf der Suche nach dem Stein, der beinahe verwendet wurde, um die Ehebrecherin im Neuen Testament zu steinigen, die dann von Christus gerettet wurde. Auf seinen Reisen entdeckt er andere Steine, die letztendlich zu tragischen Enden geführt haben. Das Libretto des isländischen Dichters Sjón wird auf Englisch gesungen.
Die zweite zeitgenössische Oper in Aix diesen Sommer bezieht sich auf eine alte indische Fabel. Kalîla wa Dimna stammt aus der Feder von Moneim Adwan, der auch in einer der Hauptrollen zu sehen ist. Diese Fabeln, verfasst von Ibn al-Muqaffa' im achten Jahrhundert, waren ursprünglich zur moralischen Unterweisung indischer Prinzen angedacht. Diese wird auf Arabisch und Französisch gesungen und mit einer Reihe arabischer Instrumente begleitet; der Komponist beschreibt sie als „Verbindung von arabischen und europäischen Kulturen“.
Die Besucher, die eine Opernpause einlegen möchten, dürfen sich von ansprechender Kammermusik verführen lassen: Topcellist Jean-Guihen Queyras erhält eine Carte blanche, seine Lieblingsmusiker einzuladen. Zu ihnen zählt Alexander Melnikov für Beethovens Cellosonaten, Bariton Stéphane Degout und das Arcanto Streichquartett. Saxophonist Raphaël Imbert erhält ebenfalls eine Carte blanche, mit der er weitere zeitgenössische Werke aufs Programm setzt.
Von Adwans Arabien bis zu Debussys Allemonde gibt es eine Vielzahl von Produktionen, die den reisenden Opernenthusiasten in diesem Sommer in die Provence locken.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.