Zu den großen Namen, die beim Berliner Tanz im August ihre Werke präsentieren, gehört auch die kanadische Compagnie Marie Chouinard. Bekannt für ihr Interesse am Körper und seiner Deformation – für einen Tanz trugen die Tänzer Spitzenschuhe und Krücken zusammen mit einem Bondage-ähnlichen Kostüm – kontrastiert Chouinards Werk Leichtigkeit und provokante Explosivität, die sowohl die traditionelleren Liebhaber des zeitgenössischen Tanzes anspricht als auch das „dunklere,“ experimentellere Publikum. Zur Feier des 25-jährigen Jubiläums ihrer Compagnie präsentierten die vielseitigen, vielfach mit Auszeichnungen bedachte interdisziplinären Künstler zwei der aktuellsten Werke der Choreographin: Soft Virtuosity, still humid, on the edge (2015) und HENRI MICHAUX: MOVEMENTS (2011).
Mit verzerrtem Gang, Grimassen und Videoprojektionen betrachtet das erste Stück des Abends, eine Koproduktion mit dem Stuttgarter internationalen Tanzfestival Colours mit Unterstützung des ImPuls-Festivals Wien, den Körper im Detail. Das kryptische Werk, durchsetzt mit grotesken, witzigen und beinahe göttlichen Bildern, schließt deutlich Chouinards Erfahrung als Videokünstlerin ein. Szenen von behinderten oder deformierten Körpern (deren politische Assoziationen nicht Gegenstand dieser Kritik sind) werden zusammen mit den ninjaartigen Bewegungen von zehn Tänzern porträtiert, die ihre Gesichter kindlich in ihren blauen und schwarzen T-Shirts verstecken. Kurz darauf dreht sich ein gleichgeschlechtliches Paar auf einer Töpferscheibe in einer endlosen Shiva-und-Parvati-Umarmung. Ihr vervielfachtes Bild, hinter sie projiziert, verlieh ihnen eine technologische, New Age-„Tiefe“, die den Skulpturen im Original abgeht. Dann tanzt eine Solo-Tänzerin im Duett mit ihrem leicht verzögerten, verlangsamten, größeren, projizierten Selbst. Die Verwendung von Videos erlaubt Chouinard nicht nur, den Blick des Publikums zu intensivieren, sie projiziert die Publikumsperspektive praktisch auf den Tanz, wenn die Tänzer seitlich auf die Bühne gehen und frontal gefilmt werden. Das daraus resultierende Meer von Gesichtern erinnert in der Projektion ein wenig an Bill Violas Installation Observance (2002). Noch prominenter im Tanz, und ebenfalls mit leisem Viola-Echo, ist eine Tableau vivant-Sequenz. Wie flüssiges Material brechen die Tänzer aus den Seitenflügeln hervor, bilden einen Klumpen. Ihre langsamen Bewegungen werden im Hintergrund im Panorama projiziert. Die gefilterte Realität der durchdachten Details – Mimik und Handhaltung der Tänzer – betont die Intention der Kameralinse, indem sie unendliche mögliche Geschichten rahmt, mal heroisch, mal grotesker, immer abhängig von Louis Duforts Musik, doch ohne je eine wirkliche Handlung zu entwickeln. Wie ein Inhaltsverzeichnis werden all diese Pseudo-Ninja-Virtuosität und die Grimassenstudie (die mich an den exzentrischen Wiener Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt (1736 – 1783) erinnerte) schließlich zum Anfang zurückgeführt.
Das zweite Werk des Abends basiert auf einem Buch des belgischen Dichters Henri Michaux, das 1951 veröffentlicht wurde. In diesem Tanz treffen Mario Giacomettis Figuren Höhlenmalereien auf einem Industrial-Soundtrack. Auf die Rückwand der Bühne werden die leeren Seiten eines offenen Buches projiziert. Einzeln zunächst, dann in Paaren oder kleinen Gruppen betreten die zehn Tänzer, in Schwarz gekleidet, die Bühne, und imitieren die Formen und Bewegungen der hieroglyphischen Figuren auf den weißen Seiten. In einem virtuellen Buch an der Seite kann man sehen, wie viele Zeichnungen bereits angefertigt worden sind. Es sind Michauxs Mescalin-befeuerte, abstrakte Wasserfarben- und Tintenzeichnungen, die ein fünfzehnseitiges, lyrisches Gedicht begleiten. Der Tanz gleicht diesen Mimespielen, in denen man ein Wort oder einen Filmtitel errät, und man sieht, wie die Tänzer das interpretieren, was wie Flecken oder Höhlenmalereien aussieht. Es scheint, als legten die Tänzer einen Rohrschach-Test ab und nicht mit Worten, sondern mit körperlichen Bildern antworten. Als ein Tänzer unter den Bodenbelag kriecht und dabei Michauxs Gedicht rezitiert, wird dadurch, in Verbindung mit den ohnehin explosiven Bewegungen und der Musik, die Assoziation zur Heavy Metal-Szene vervollständigt. In diesem Werk, das kohärenter als das vorige schien, gibt es viele unterhaltsame Bewegungen. Anstelle eines Theaters konnte man sich vorstellen, in einer Probe zu sein, in der die Tänzer gerade herumalbern. Das Stück endet mit den Worten von Michauxs Postscript, die Tänzer, beinahe nackt, improvisieren unter dem stroboskopartigen Licht ohne offensichtliche Verbindung zu den Schildern, die neben ihnen gezeigt wurden. Michaux, der Künstler zu einer Reaktion auf sein Werk eingeladen hatte, wäre sehr wahrscheinlich zufrieden mit Chouinards Antwort. Diese „choreographische Freude“ wurde ebenfalls mit Unterstützung von ImPuls Tanz umgesetzt.
Im Allgemeinen erschienen die beiden Tänze eher wie abstrakte Folgerungen, als dass sie emotionale Verbindung suggerierten, selbst wenn der Körper das Objekt der Untersuchung war. Im Ersten gab die Expressivität von Chouinards Ninjatänzern eine Analyse unserer schnellen emotionalen Umschwünge, fand sie Schönes im Hässlichen. Das zweite Werk hingegen betonte schnell die kreative Intuition ihrer Spaßvögel, die feengleich der Buchseite zu entsteigen schienen. Der wahre gemeinsame Nenner der beiden Werke Chouinards ist ihre Verwendung anderer Medien – Videoprojektionen, Gemälde und Dichtung – um einen Dialog zwischen und möglicherweise eine neue Perspektive auf Tanz und andere Kunstformen zu schaffen.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.