Eigentlich hat das Regieteam der neuen Nürnberger Inszenierung von Richard Wagners Der fliegende Holländer ganz genau in dessen Entstehungsgeschichte geschaut: der 26-jährige, hochverschuldete Wagner, illegal von Riga nach London fliehend, wäre an Norwegens Küste im Sturm fast gestrandet. Immerhin fand er nach der Seenotrettung darin ein persönliches und künstlerisches Lebensthema: Liebestod als Bedingung von Erlösung. Grundlage bot ihm die Sage vom ewig über die Meere schippernden Holländer, der verdammt ist, nicht zu sterben und alle sieben Jahre an Land gehen zu dürfen, um eine Braut zu suchen, die mit ihrem eigenen Tod seinen Fluch beenden könnte. Schon Anfang der 1830er Jahre hatte Wagner die schaurig schöne Gruselstory aus Heinrich Heines Memoiren des Herren von Schnabelewopski kennengelernt, dessen Ironie ihn wohl weniger interessierte. Um so aufwühlender gestaltete Wagner äußeres wie inneres Drama des tosenden Meeres und pfeifender Winde, die der Partitur einen durchgehenden, gespenstisch drängenden Sog verleihen.

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Jochen Kupfer (Holländer)
© Pedro Malinowski

Recht wörtlich hat die Regisseurin Anika Rutkofsky am Nürnberger Staatstheater offenbar Wagners eigenes Libretto genommen, das den Holländer wie eine Figur aus der Zeit der Conquista beschreibt, Seefahrern ähnelt wie dem Portugiesen Vasco da Gama, die an kolonialer Ausbeutung in Südamerika Geld verdienen und die eigenen Matrosen unter brutalen Bedingungen Schwerstarbeit leisten lassen. Daland wiederum lebt als Nachfahre europäischer Siedler in einem klassizistischen Herrenhaus im karibischen Raum, wo er eine Zuckerrohr-Plantage betreibt, für die sowohl Handelspartner wie Arbeitskräfte nützlich wären.

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Christoph Strehl (Erik) und Anna Gabler (Senta)
© Pedro Malinowski

Wenn Daland ein Geschäft wittert und der Holländer sich nach einer Frau wie Dalands Tochter Senta sehnt, die mit ihren Gedanken permanent um ihn kreist, Gemälde über Gemälde mit seinem Bildnis malt, sehen beide die Chance auf einen vorteilhaften Deal. Nur Erik, der sich Hoffnung auf eine Heirat mit Senta gemacht hatte, reagiert unwirsch und ratlos, wenn selbst die Farbschleier aus einem gegen die Leinwand geschleuderten Eimer in die Züge ihres Idols zerlaufen.

Rutkofsky will Senta in den Mittelpunkt stellen, jedoch nicht als passive Märtyrerin, sondern eine unangepasste junge Frau zeigen, die sich wenig schert um das Unverständnis ihres Vaters für ihre Obsession und eine Gesellschaft ablehnt, die durch Ausbeutung reich wird. Und als sie erstmals dem Holländer gegenübersteht, stimmt die Chemie zwischen beiden. Sie wird am Ende den Fluch brechen und sich selbst erlösen; sie schwärzt ihr letztes Holländer-Bild und geht friedlich von der Bühne.

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Anna Gabler (Senta)
© Pedro Malinowski

Senta als selbstbewusste, ja eigensinnige Frau darzustellen ist schon öfter der Grundgedanke von Regisseuren gewesen. Dmitri Tcherniakovs gegenwärtige Bayreuther Inszenierung des Fliegenden Holländers geht noch deutlich weiter und zeigt Senta gar als junge, rauchende Revoluzzerin, eckig und widerborstig, die sich querstellt im biederen Haushalt des Daland. Dagegen wirkt in Nürnberg diese Senta eher wie eine „höhere Tochter“ aus großbürgerlichen Kreisen.

Im ersten Aufzug füllt das Gerippe des Geisterschiffs bereits den klassizistischen Salon mit seinen übermannshohen Fensterläden, den Blick später nicht zufällig auf drei Zuckerhut-Berge freigebend. Zwei Welten aus verschiedenen Epochen stoßen aufeinander. Sentas Staffelei steht permanent im seitlichen Vordergrund. Der Matrosenchor stimmt sein „Steuermann lass die Wacht” ein mit üppiger Wucht und virtuoser Beherrschung der Sechzehntel-Läufe. Intensiv dann die Verhandlungen zwischen dem Holländer und Daland. Welten trennen auch Matrosen und die jungen wohlerzogenen Damen, die im zweiten Aufzug in Rokoko-Reifröcken fröhlich mit ihren Fächern wedeln und Sentas Ballade lauschen: Zuckersüßes statt summender Spinnrad-Spindel.

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Hans Kittelmann (Steuermann), Taras Konoshchenko (Daland) und Herrenchor
© Pedro Malinowski

Zum Verlobungsfest im dritten Aufzug tragen weißbemützte Diener eine riesige weiße Hochzeitstorte herein, doch die eingeladenen Holländer-Matrosen bleiben aus. Dafür sprechen die Plantagenarbeiter*innen dem Zuckerschnaps reichlich zu; das beschwingte Fest artet aus in eine Orgie aus trunkenem Rum-Tollen, lallendem Tönen und blutiger Selbstverstümmelung, die in der konsequenten Direktheit bis zum eigenhändigen Ritzen der Haut eher abstößt als verdeutlicht. Erik trauert der Abwendung von Senta nach; Christoph Strehl nahm hier in seiner herzbewegenden Arie im höhensicheren schönen Tenorglanz nochmals die verblassende Singspieltradition dieser Zeit auf.

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Anna Gabler (Senta)
© Pedro Malinowski

Mit Jochen Kupfer, seit 30 Jahren nicht nur gefragter Wagner-Interpret, konnte das Staatstheater einen Bassbariton mit profundem Stimmumfang als Holländer aufbieten, dessen leuchtende Höhen und füllig schwarze Tiefen ideal zur schillernden Sagengestalt passten. In faszinierender Deutung band er textdeutlich den Ausdruck von Wut über den erlittenen Fluch an das Lächeln beim Zusammentreffen mit Senta. Mit Recht bekam er Szenenapplaus nach der Auftrittsarie „Die Frist ist um”.

Anna Gabler konnte als Senta an diesem Abend nicht ganz mithalten mit Kupfer. Ihr schwärmerisches Rollenporträt war treffend und empathisch angelegt; dass aus der imaginierten Gestalt endlich ein lebender Mensch wird, motiviert sie spürbar. Lyrische Momente gerade in den differenziert gestalteten Duetten gelangen ihr in der Mezzolage stimmlich eindrucksvoll, an einigen hochliegenden Stellen zeigte sie Nervosität.

Anna Gabler (Senta) und Jochen Kupfer (Holländer) © Pedro Malinowski
Anna Gabler (Senta) und Jochen Kupfer (Holländer)
© Pedro Malinowski

Als Kuppler-Vater wie Farmer agierte Taras Konoshchenko hervorragend; mit seinem registerreichen Bariton hatte er alle Färbungen fürs familiäre Geschäft anzubieten. Almerija Delic gab ihrer Mary packende Dramatik. Herrlicher tenoraler „Sleep“-Stick begeisterte in der Arie zu Südwind und Steuermannswacht von Hans Kittelmann.

Hochexpressiv erklang die Staatsphilharmonie Nürnberg unter dem Nachdirigat von Jan Croonenbroeck: durchaus markant wie die aufgepeitschten Meereswellen sowie mit melodiösem Schmelz beim Ausloten von Seelentiefe im dramatischen Verlauf. Ebenso klangprächtig und spielfreudig der Staatsopernchor.

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