Über zwanzig Symphoniekonzerte, in der Mehrheit mit den weltbesten Orchestern, kann man diesen Sommer am Lucerne Festival hören. Für eines davon machte der Veranstalter auffällig viel Reklame: für das Konzert des Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla mit der Solistin Julia Hagen. Der Kartenverkauf lief wohl nicht nach Wunsch, und im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL) blieben denn auch einige Plätze leer. Warum sollte man sich ausgerechnet für das französische Radio-Orchester entscheiden, wenn man auch die Berliner Philharmoniker oder das Royal Concertgebouw Orchestra wählen könnte?
Zum Beispiel aus Neugier. Weil man die künstlerische Entwicklung der inzwischen 39 Jahre alten litauischen Dirigentin weiterverfolgen möchte. Ihr Luzern-Debüt gab Mirga Gražinytė-Tyla im PrimaDonna-Sommer 2016, vor zwei Jahren kehrte sie mit den Münchner Philharmonikern in die Leuchtenstadt zurück. In den Jahren dazwischen leitete sie das City of Birmingham Symphony Orchestra, eine Kaderschmiede, die unter anderen den Weltruhm von Simon Rattle, Sakari Oramo oder Andris Nelsons begründet haben.
Das zur Eröffnung gespielte Cellokonzert von Elgar bietet für Dirigentin und Orchester keine nennenswerte Hürde, bildet die Komposition doch gewissermaßen ein Solostück für Violoncello mit Begleitung des Orchesters. Anders verhält es sich bei Claude Debussys Symphonischer Dichtung La Mer. Allein schon der riesige Orchesterapparat stellt für Dirigenten eine zünftige Herausforderung dar. Dass Gražinytė-Tyla dieser Herausforderung gewachsen ist, zeigt sich schnell. Mit zackigen, energischen Impulsen schlägt sie rechterhand den Taktstock, mit weichen Bewegungen der Linken setzt sie einen Kontrapunkt.
Das Orchestre Philharmonique de Radio France gehört, nach dem berühmten Orchestre de Paris und zusammen mit dem Orchestre National de France, zu den drei besten französischen Symphonieorchestern. Mit Gražinytė-Tyla musiziert man des Öfteren, und diese Vertrautheit ist auch in Luzern zu spüren. Die Dirigentin erweist sich als kluge Klangfarben-Regisseurin und setzt wirkungsvolle Höhepunkte, besonders im dritten Satz der Trois esquisses symphonques. Ihre straffe Führung deckt allerdings auch eine Kehrseite auf: Die melodischen Konturen geraten oft zu hart, die harmonischen Wechsel zu scharf abgegrenzt. Kurz: es fehlt der Interpretation etwas an poetischer Freiheit und Offenheit.

Dass das französische Radio-Symphonieorchester an diesem Abend auch technisch nicht immer auf dem höchsten Stand agiert, zeigt sich am Schluss in Maurice Ravels Boléro. Schon bei der Vorstellung des Themas leistet sich die erste Flötistin einen kleinen Patzer, bei den im Unisono geführten Melodien der Holzbläser verschmelzen die Klangfarben nicht perfekt. Bei Posaune und Saxophon sind durchaus Glissandi zu hören, aber diese dürften noch frecher, noch spanischer daherkommen. Und wenn gegen Schluss auch die Violinen ins Geschehen eingreifen, sollten sie nicht nur sehr laut, sondern auch deutlicher artikuliert auftreten, um die gewünschte Ekstase hörbar zu machen.
Neugierig konnte man auch auf die erneute Begegnung mit Julia Hagen sein. Nachdem die Cellistin aus Salzburg im letzten Sommer als Gewinnerin des UBS Young Artist Award zusammen mit den Wiener Philharmonikern in Schumanns Cellokonzert auftreten durfte, ist diesmal mit Edward Elgars Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll, Op.85 ein gänzlich andersgeartetes Werk an der Reihe. Das 1919 komponierte melancholische und nostalgische Alterswerk des englischen Komponisten ist der 30-jährigen temperamentvollen Musikerin nicht gerade auf den Leib geschrieben. Aber die Art, wie sie sich in die Gefühlslagen dieser Komposition hineinbegibt, ist bewundernswert. Auf ihrem Ruggieri-Cello von 1684 zaubert sie unendlich lange, ungemein traurige und echt romantische Melodien hervor. In den Tremolo-Figuren des Scherzos und im energischen ersten Hauptteil des Schlusssatzes zeigt sie indes, dass sie musikalisch nicht nur zu lamentieren, sondern auch gespenstische und bejahende Stimmungen zu erzeugen vermag. Auf den (hoffentlich) nächsten Luzerner Auftritt der inzwischen international gefragten Künstlerin darf man gespannt sein.