Natürlich verlangt einem Monteverdis Marienvesper vorab zahlreiche interpretatorische und aufführungspraktische Grundentscheidungen ab, doch sind ohnehin Raphaël Pichons Eingriffe in so manche einfachere Partitur nach diesem weiteren musikhistorischen Meilenstein aus Mantua mittlerweile schon derart berüchtigt wie ansonsten seine originell rahmenden Programmkonzepte. Zudem genauso wie die meistens damit gefundene Lösung oder Sinnfälligkeit auf mitunter für allzu bekannt gehaltene musikalische Rätseleien. Und die für sich sprechende Qualität der Umsetzung mit seinem Pygmalion und daraus wie dazu geholten Solistenfreunden, die sich im Falle Monteverdis Psalmvertonungen, Marienhymnen und Concerti sacri über die Darbietungen des Ensembles im heimischen Bordeaux, in Versailles 2014, in London, Leipzig und Amsterdam 2017 bis zu der letztes Jahr veröffentlichten CD erstreckten. Nun stand eine weitere Mini-Tournee damit an, die die Kraft und moderne Herrlichkeit jener Alten Musik sowie Pichons Vorgehen aufs Neue unterstrich.

Ein solcher und offensichtlichster Eingriff Pichons ist beispielsweise, das die Vesper startende Intonations-Invitatorium „Deus in adiutorium meum intende“ mit dem „Domine ad adjuvandum me festina“-Responsorium nach dem „Amen“ des Magnificats wieder aufzugreifen. Diesmal auf den 102. Psalm „Deus exaudi orationem meam“ mit dem Responsorium „Fidelium animae“. Quasi als Conclusio-Ummantelung, wie sie später Bach – freilich nur notentechnisch – in seinem Magnificat verwandte, und als Herzogs-Toccata in sakralem Gewande zu Ein- und Auszug des angerufenen Herrn und Geistes über dem weltlichen Gonzaga-Fürsten. Vom ersten bis zum letzten Ton dieser Edition stellte sich dabei Gänsehaut ein, die vor allem in den Chorpsalmen begleitet war von der durchflutenden Empfindung: Zum Weinen schön. Eine unschlagbare, überragende Kombination.
Denn Pichon war mit seinen energischen, kleinen und großbogigen Gesten sichtlich in der Musik zu Hause, was auf den üppig besetzten Pygmalion-Chor und das farbwuchtige Pygmalion-Orchester in gesamterscheinender Agilität und stilwahrender wie auch theatralisch-extravagant packender, kontrastreicher Artikulation, Tempi und Textlichkeit, Intonation und cantus-firmus-tragender Homogenität übersprang. Sie waren sowohl Form und Klasse der Ensembles als eben auch erforderliche Sprache Monteverdis revolutionär gemixter, 1610 in Venedig im Druck erschienenen Vertonungen bestätigende Zeichen, mit der sie die innewohnende, stimmliche Faszination aus profan-emotionaler, direkter und spiritueller Berührung überwältigend huldigten. Mit den vor den attacca, anfänglich im Mezzo oder oft im demütigen Piano zur prächtigen Entfaltung genommenen Psalmen von den seitlichen Balkonvorsprüngen im Antwerpener De Singel vorgetragenen Antiphonen schlug einem so ein meditativer wie drängender Fluss um die Sinne, der dankbar und beseelt machte, schwärmen und stets staunen ließ.
Könnte ich demnach jeden Psalm noch ausschweifend konkreter loben, sei mir gestattet, zum einen die achtstimmige Sonata sopra Sancta Maria als einen exemplarischen Höchstgenuss herauszugreifen, als die zwölf Soprane Pygmalions auf der obersten Stufe der Bühne heimelig-rein in die Herzen strahlten und sich die beiden Violinen Sophie Gents und Louis Creac’h sowie das Sackbut-Consort um die zwei formidablen Cornetti Lambert Colsons und Gustavo Gargiulios sowie kernigen drei Posaunen erhoben. Zum anderen der folgende Hymnus Ave maris stella mit wunderbaren Ausgestaltungskünsten von Geigen und Ronan Khalils luftigem Cembalo, den Barockharfen oder den drei Blockflöten, zu denen der Chor und die – sonst auch dialogischen – Favoriteinsätze (Bässe darin Renaud Brès, Étienne Bazola und Nicolas Brooymans) die Hörer des restlos ausverkauften Saals edel und sanft, am Ende mit auskostendem „Amen“ merklich in den Bann zogen.
Das taten ebenfalls die Solokonzerte, in denen vor allem Tenor Zachary Wilder, zusammen mit Robin Tritschler oder im Duo Seraphim zur Dreiheiligkeit mit Antonin Rondepierre (auch Echo) mit gehaltvoller Leichtigkeit, monodierender Aufgeräumtheit und dramatisch einbettender Überzeugung verzückten. Gleichsam erwiesen sich Céline Scheen und Perrine Devillers mit warm-weichen, dezent eingebrachten Sopranen, exponiert im Pulchra es, als gedankenöffnende Vorboten und Abgesandte einer himmlischen Welt. Einer unsterblichen und unvergesslichen, wie Monteverdis Marienvesper an sich und erst recht von Pichon und Pygmalion.