Die Bayreuther Festspiele erheben seit jeher den Anspruch, künstlerische Vorreiter zu sein, und in diesem Jahr reiten sie die Welle der Digitalisierung. Augmented Reality heißt das Schlagwort, und anders als bei Videospielen mit Virtual Reality taucht man dabei nicht in eine gänzlich künstliche Welt ein, sondern das visuelle Erleben wird mit digitalen Inhalten aufgepeppt. Klingt gut – ist es das auch?

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Georg Zeppenfeld (Gurnemanz)
© Enrico Nawrath

Pro Vorstellung der neuen Parsifal-Produktion von Jay Scheib wurden jedenfalls 330 Sitzplätze mit Spezialbrillen ausgestattet, die nur wenig schwerer als normale Sonnenbrillen sind und es ermöglichen, dass Bühnengeschehen mit visuellen Effekten zu überlagern. Diese Brillen werden bei Bedarf an die individuelle Sehkraft der Besucher*innen angepasst, was mit Unterstützung des zahlreich vorhandenen und ebenso freundlichen wie geduldigen Personals rasch erledigt ist. Das ist aber nur ein kleiner Zwischenschritt in dem aufwändigen Prozess, der hinter der Einrichtung und Programmierung steckt: Es werden die Sichtverhältnisse jedes einzelnen Platzes berücksichtigt, und die bunten Animationen werden manuell in Abstimmung mit der Musik angestoßen.

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Elīna Garanča (Kundry)
© Enrico Nawrath

Vor dem ersten Aufzug wird allerdings schon anhand der virtuell herumflatternden Taube klar, dass diese Technik auch nur aus Pixeln gebaut ist. Der Umstand, dass sie an einem ehrwürdigen Haus gezeigt wird, macht sie per se auch nicht besser als das, was man in profanen Vergnügungsparks erlebt (oder erlebt hat, beispielsweise haben die Universal Studios ihren Minion Mayhem in 3D schon 2019 nach nur zwei Jahren Laufzeit auf einen normalen Film zurückgebaut).

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Jordan Shanahan (Klingsor)
© Enrico Nawrath

Interessant ist allerdings, wie mit der Überblendung durch die virtuellen Bildwelten die Bühne erweitert wird – man kann den Kopf drehen, was die Halswirbel hergeben: Der virtuelle entlaubte Wald ist scheinbar endlos, und im dritten Akt erfährt man, dass das Wasser im See der Gralsburg mit Batterien und Plastikmüll verunreinigt ist. Die Idee der Natur als entweihtes Heiligtum wird aber nicht konsequent aufgebaut oder verfolgt, womit man zur Crux der virtuellen Bilderflut kommt: sie kann eine schwache Inszenierung nicht kompensieren und hat noch weitere Tücken. Die Technik lässt zwar die Rückenansicht der vorderen Sitznachbarn mitunter verschwinden, das gilt aber je nach Farbdichte der virtuellen Elemente auch für Teile der Bühne, und natürlich lenkt sie auch ab. Da kann es passieren, dass man verpasst, warum Parsifal plötzlich ein menschliches Herz in der Hand hat, oder dass Klingsor hinter einem pinkfarbenem Riesentotenkopf verschwindet, der peinlich-ungelenk sein Kiefer auf- und zuklappt.

Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug © Enrico Nawrath
Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug
© Enrico Nawrath

Das Künstlerische dieser Künstlichkeit hat auch Diskussionsbedarf, denn ein bestimmter Stil ist nicht erkennbar. Surrealistische Lilien wechseln sich mit stilisierten Bäumen und ungeschickt bewegten menschlichen Umrissen ab, ein weißlicher Kundry-Avatar pflanzt sich vor einem auf… die Liste des Gezeigten ist lang, überzeugend gelingt aber nur Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug, denn die virtuellen Blumen und Ranken, die zusätzlich zur bunten Kulisse gezeigt werden, zaubern tatsächlich eine magische Atmosphäre. Die Blumenmädchen versprühen zudem neben Walküren-Gefühl (es liegt ein blutiger Toter auf einer Matratze, und bis zu verführerischen Sirenentönen dauert es etliche Takte) optisch einiges an Flower-Power Flair. Das sind allerdings auch die Momente, wo man gern einmal unter der AR-Brille durchsieht, weil diese alle Farben und insbesondere die nützlichen Hintergrundvideos, die häufig Nahaufnahmen des Geschehens zeigen, deutlich abdunkelt.

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Georg Zeppenfeld (Gurnemanz) und Andreas Schager (Parsifal)
© Enrico Nawrath

Allerdings ist der Erlebniswert dieser Aufführung ganz ohne Brille wohl erheblich geschmälert, denn der fulminante zweite Aufzug stand zwischen zwei musikalisch wie regiebedingt unterdurchschnittlichen Darbietungen. Das liegt in erster Linie am Dirigat von Pablo Heras-Casado, der bereits präpandemisch gehypt wurde, aber nur im zweiten Aufzug zeigte, was hoffentlich noch aus ihm wird. Der erste Aufzug mit einem eher geerdeten als schwebend Vorspiel ging noch als solide durch, aber der dritte Aufzug offenbarte einiges, was nicht sein soll, etwa eine verschenkte, weil einförmig-unakzentuierte Überleitung von der Karfreitagszauber-Szene zum „Geleit“ des Grals, eilige Harfen und einige Inkonsistenzen mehr, sodass sich die übliche Ergriffenheit zum Schluss nicht einstellen wollte.

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Andreas Schager (Parsifal) und Elīna Garanča (Kundry)
© Enrico Nawrath

Leider liegt das auch an besonderen Umständen. Andreas Schager gebührt Dank für sein Einspringen als Parsifal, doch war ihm nach dem Siegfried des Vortags (!) bei „Nur eine Waffe taugt“ die Erschöpfung anzuhören. Bis dahin bot er eine tadellose Leistung, was man auch von Georg Zeppenfeld als Gurnemanz behaupten kann; letzterer kann unter anderen Dirigenten aber noch mehr Strahlkraft entfalten. Derek Welton zeigte den Amfortas als Musterschüler, der ein einziges Mal in seinem Leben einen Fehler gemacht hat, und auch im Leiden Größe zeigt. Jordan Shanahan als Klingsor machte erfolgreich gegen das virtuelle Spektakel Eindruck, und Tobias Kehrer gab in einer geschlitzten Abendrobe, die aus grauen Müllsäcken geschneidert schien, einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Titurel. Für Gänsehaut-Momente sorgte der exzellente Chor.

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Derek Welton (Amfortas)
© Enrico Nawrath

Star des Abends war jedoch Elīna Garanča, die alle Facetten von Kundry zeigte, und für die man sich einen schönen Effekt ausgedacht hat: Parsifals Zurückweisung quittiert sie ähnlich der Empörung einer Königin über einen ungehorsamen Untertanen, und mit dem endgültigen Scheitern ihrer Verführung altert sie (auf der Videoleinwand) für ein paar Momente. Wie das vor sich geht, ist viel interessanter und bietet mehr Theaterzauber als die plakative virtuelle Bebilderung.

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