An einem sonnigen Herbstnachmittag hatte ich das Vergnügen, im alpinen Schloss Elmau mit Blick auf das vom ersten Schnee puderbezuckerte Wetterstein-Gebirge den Geiger Christian Tetzlaff zu interviewen. Tetzlaff konzertierte gerade in Elmau, war gut aufgelegt und stieg ohne großes Warm-up in ein intensives Gespräch über die Musik und das Leben ein.
Benedikt Zacher: Wir hatten gerade über kleine Kinder gesprochen, Ihre machen hoffentlich gerade Mittagsschlaf; mein Vierjähriger wollte gestern spontan tanzen, also setzte ich mich ans Klavier und spielte einen Walzer von Schubert, woraufhin er mich sofort unterbrach und sagte: „Nein Papa, spiel bitte keine elegante, sondern geile Musik!“ Das finde ich eine interessante Einteilung der Musikliteratur. Wie kategorisieren Sie Musik?
Christian Tetzlaff: Mein kleiner sagt immer „Party-Musik“ im Gegensatz zur Klassik. Aber im Ernst, die herkömmliche Unterscheidung in E- und U-Musik stößt natürlich schnell an ihre Grenzen, wenn man z.B. Radiosender betrachtet, die zwar Klassik übertragen, aber eben nur autoradiokompatibel, ohne tiefe langsame Sätze. Also wohl doch eher Unterhaltungs-Musik. Da hört man dann Sätze wie „Klassische Musik fährt mich so schön runter“.
Für uns, die wir Musik mit Herzblut machen, ist das eher absurd, denn wenn wir Musik machen, wollen wir die Antennen der Zuhörer ja gerade nicht runter- sondern hochfahren. Antennen, die ihnen anzeigen: „Hier ist etwas, was mich tief berührt. Was klingt denn da in mir wider und bringt mich zum Weinen, wie hat mich der Komponist erreicht und etwas, was in meiner Seele vergraben war, zutage gefördert?“ Wir Musiker haben also eine kathartische Aufgabe, um viele Menschen in einem Konzert in einem freudigen, aber oftmals eben auch schmerzhaften Prozess an existentielle Fragen heran- und auch durch den Bewältigungsprozess hindurchzuführen. Das ist es schließlich, was von Komponisten geteilt wird: die Bewältigung eines Lebenskampfes. In Schulklassen frage ich die Kinder immer: „Warum hören wir uns überhaupt traurige Stücke an?“ Und dann kommt recht schnell die Antwort: „Weil wenn man weint, es einem danach besser geht“. Und genau das ist ein wesentlicher Sinn von Musik: Das Teilen von Schmerz als religiöse Menschheitsidee. Und das Teilen von großer Freude und Liebe und der gemeinsamen Begeisterung darüber.
So sehe ich auch den wesentlichen Unterschied zwischen klassischer Musik und Pop-Musik darin, dass die Pop-Musik tendenziell darum bemüht ist, einen einzelnen Künstler oder eine Band in den Mittelpunkt zu stellen und zu idolisieren, während klassische Musik sich an den individuellen Zuhörer richtet mit differenzierten Geschichten und zerbrochenen Lebensentwürfen.
Individueller als Popkonzerte sind klassische Konzerte natürlich allemal, aber ist es vielleicht auch eine Erfindung der Moderne, dass man Konzerte in großen dunklen Sälen anhört, die Augen und Ohren frontal auf die hell erleuchtete Bühne richtet? Wenn man da an die Soiréen bei Schuberts und Mendelssohns zurückdenkt, scheint es da viel geselliger zugegangen zu sein. Wünschen Sie sich nicht auch manchmal etwas mehr Interaktion mit dem Publikum und kleinere, intimere Settings?
Das kommt auf die Stücke an. Brahms hat seine Symphonien mit Kleinst-Besetzungen ausprobiert und war dann aber auch froh, sie im großen Konzertsaal mit 16 ersten Geigen hören zu können. Und auch ich gehe bei vielen Stücken mit und kann mich dann kaum mehr auf dem Sitz halten, bin aber z.B. bei Schubert-Liedern froh, wenn ich völlig in mich gekehrt nur „ganz Ohr“ sein darf. Wenn man ehrlich und tief musiziert, ist viel möglich. Manchmal gelingt das auch in großen Hallen. Es kommt darauf an, wie konzentriert man ist und wie sich viele Ohren auf die Musik einstellen. Gerade in großen Sälen kommt dann wieder dieser Aspekt der religiösen Erfahrung zum Tragen, wenn sich viele Menschen gemeinsam auf ein tiefes Musikerlebnis einlassen. Das Einzige, was grundsätzlich nicht funktioniert für mich und was wahrscheinlich 80% der Konzerte ausmacht, ist, wenn Interpreten das Gefühl haben, dass sie selber wichtig sind und deswegen die Komposition nur als Materie behandeln. Das kann man daran dingfest machen, ob die Künstler das spielen, was in der Partitur steht oder eben nicht. Von Zuhörern, die sich nicht so gut auskennen oder die Partitur nicht lesen können, wird das dann als „künstlerische Freiheit“ bewundert. In den meisten Fällen ist es aber schlicht Faulheit und Angeberei. Nach dem Motto „Piano gefällt mir hier nicht, weil wenn ich hier laut spiele, bekomme ich mehr Beifall“. Wenn Du die wenigen Bezeichnungen, die ein Komponist in die Partitur schreiben kann, um sich und seine Idee vor Fehlinterpretation zu schützen, mit Füßen trittst, dann hast Du das Thema und wahrscheinlich auch den Beruf verfehlt.
Aber hat nicht selbst Joseph Joachim sich bei Johannes Brahms über den zweiten Satz seines Violinkonzerts beschwert, weil das Hauptthema von der Oboe vorgestellt und dann von der Geige lediglich variiert wird?
Nein, das war Sarasate. Im Gegenteil, Joachim und Brahms haben um jeden Takt gerungen. Brahms äußerte Dinge wie „Wenn ich einen Zweierbogen schreibe, ist das noch immer ein Seufzer; eine Dreierbindung ist eine rhythmische Gruppierung von 3“. Solche Unterscheidungen findet man selten bei Geigern, denn viele orientieren sich noch immer an edierten Ausgaben berühmter Lehrer oder Spieler, wo Wesentliches verändert ist. Die Beschäftigung mit dem Originaltext ist so wichtig wie das Erlernen der Muttersprache. Und trotz einer textgetreuen Darbietung hat man ja immer noch riesige künstlerische Freiheiten. Die wunderschöne Hauptmelodie muss man zwar piano spielen, weil es so drinsteht. Aber ich kann die Melodie wehmütig, sehnsüchtig, zufrieden oder erfüllt spielen, was ein gewaltiger Unterschied ist.
Kann es sein, dass man mit solch einem Anspruch große Teile der klassik-affinen Zuhörerschaft überfordert oder gar abhängt, die sich auch gerne mit bestimmten Künstlern identifizieren und diese bewundern? Laufen wir nicht Gefahr, dass die Klassik dann irgendwann nicht mehr überlebt und nur noch ein Sektenkult wird?
Mit solchen Argumenten wird man öfter konfrontiert, aber ich kann das nicht verstehen. Zunächst waren es ja immer nur etwa 5% der Bevölkerung, die sich intensiv mit klassischer Musik beschäftigt haben. Und für mich als Künstler ist das Letzte, was ich mache, wenn ich ein Konzert spiele, dass ich irgendwelche Konzepte oder kommerzielle oder sonstige Strategien verfolge. Wenn ich spiele, verfalle ich in eine Art Trance und erlebe die Musik im diesem Moment.