Das Gastspiel war eigentlich überfällig: Einige Jahre bevor Paavo Järvi das Tonhalle-Orchester Zürich als Musikdirektor übernahm, gründete er in seiner Heimat Estland das Pärnu Music Festival. Und als dessen Residenzorchester stellte er das Estonian Festival Orchestra auf die Beine. Seit sechs Jahren leitet Järvi nun sowohl das Tonhalle-Orchester als auch das estnische Festivalorchester. Doch zu einem Gastspiel des Klangkörpers aus dem Baltikum in Zürich ist es bisher nie gekommen.

Paavo Järvi © Kaupo Kikkas
Paavo Järvi
© Kaupo Kikkas

Dass dies gerade jetzt eingefädelt werden konnte, ist dem 90. Geburtstag von Arvo Pärt zu verdanken. Järvi kennt Pärt seit seiner Jugend, war doch sein Vater Neeme Järvi ein enger Freund des Komponisten, und „Onkel Arvo“ verkehrte öfters im Hause Järvi. Bei Paavo Järvis Einstand in der Tonhalle war Pärt noch persönlich anwesend, beim Geburtstagskonzert vor einigen Tagen war dies jedoch nicht möglich. Aber auch ohne die physische Anwesenheit des betagten Komponisten geriet das Gastspiel des Estonian Festival Orchestra unter der Leitung Järvis zu einem bewegenden Erlebnis.

Järvi hat das Programm mit Bedacht so ausgewählt, dass es sich januskopfartig in zwei Teile gliederte. Im ersten Teil bot das Orchester, das in Maximalbesetzung angereist war, mit vier Kurzkompositionen einen Querschnitt durch verschiedene stilistische Phasen Pärts. Dies war sehr aufschlussreich, denn nicht alle Konzertbesucher realisierten wohl, dass Pärt, bevor er seinen unverwechselbaren Tintinnabuli-Stil fand, unter anderem mit sehr avantgardistischen Kompositionstechniken experimentiert hatte.

Eines dieser „fortschrittlichen“ Stücke ist Perpetuum mobile aus dem Jahr 1963. In der Auseinandersetzung mit Luigi Nono wendet Pärt hier serielle Techniken an, Reihen also, die er auf den Rhythmus, die Tonhöhen, die Klangfarben und die Lautstärkeorganisation anwendet. Für das Publikum, das nicht vorher die Partitur studiert hat, dominierte der Eindruck eines stets lauter werdenden Fortschreitens, das auf dem Höhepunkt mit ohrenbetäubendem Getöse große Beklemmung hervorrief. Dem estnischen Orchester seinerseits bot das Stück Gelegenheit, die Klangfarben der einzelnen Instrumente und Instrumentengruppen geradezu demonstrativ herauszustellen.

Als Beispiel für Pärts Experimentieren mit Collagetechniken fungierte Collage über B-A-C-H für Streicher, Oboe, Cembalo und Klavier. In der Sarabande etwa stehen einander abwechselnd zwei unversöhnliche Stile gegenüber: ein von der Oboe angeführter „barocker“ Abschnitt und ein von den Streichern ausgeführter dissonanter Abschnitt. Einen Vorgeschmack auf Pärts ab 1976 entwickelten Stil einer kontemplativen Einfachheit gab das Orchester mit Swansong und La Sindone. Swansong, dessen estnische Erstaufführung Järvi am Pärnu Music Festival dirigiert hatte, klang in der Tonhalle weihevoll bis pathetisch; Harfe und Röhrenglocken steuerten charakteristische Klangfarben bei.

Hauptstück des zweiten Konzertteils war Tabula rasa, ein Doppelkonzert für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier aus dem Jahr 1977. Es handelt sich dabei um das erste größere Werk des Pärt-Stils, wie man ihn nunmehr seit bald fünfzig Jahren kennt. Dass der große Tonhalle-Saal an diesem Sonntagnachmittag ausverkauft war, lag jedoch nicht nur am Interesse für Pärt, sondern mindestens so sehr an der Mitwirkung der japanischen Geigerin Midori, die seit ihren Wunderkind-Auftritten in den USA geradezu Kultstatus genießt. Zusammen mit dem jungen Geiger Hans Christian Aavik aus Estland interpretierte die mittlerweile 54-Jährige den Solopart des Doppelkonzerts. Und, o Wunder, trotz des immensen Unterschieds an Alter, Temperament und Erfahrung harmonierten die beiden Solisten umwerfend gut miteinander.

Järvi koordinierte Solo und Streichertutti derart, dass all die notorischen Pärt‘schen Stilelemente wie auf dem Präsentierteller zutage traten: Dynamik versus Statik, Aktionismus versus Ereignislosigkeit, Variationen des Immergleichen, präpariertes Klavier mit Glockenimitationen, absteigende Moll-Tonleitern, Grundtonbezogenheit und – vor allem – ein abgründig depressiver Charakter. Dass die Solisten nach so viel Trauerarbeit als Zugabe Pärts Passacaglia für zwei Violinen spielten, die auch humoristische Züge aufweist, wirkte geradezu als Erlösung.

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