Vincenzo Bellini, einer der wichtigsten Vertreter des italienischen Belcanto, gefeierter Komponist auf der Pariser Opernbühne und geschätzt von vielen seiner Zeitgenossen, starb im jungen Alter von 34, wenige Monate nach der Uraufführung seiner letzten Oper I puritani. Dieses tragische Ereignis bildet den Auftakt zu Vincent Boussards Inszenierung. Die Trauergemeinschaft versammelt sich um Bellinis Grab auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise für eine Beisetzung, die damals Ausmaße eines Staatsbegräbnisses annahm und in der Frankfurter Inszenierung ähnlich eindrucksvoll dargestellt wird.
Elvira, Tochter des Puritaners Lord Valton, liebt Arturo Talbo, einen Anhänger der verfeindeten Stuarts. Dieser verlässt sie jedoch am Hochzeitstag, um Enrichetta, der Witwe König Charles I. zur Flucht zu verhelfen. Elvira, über die wahren Intentionen Arturos im Unklaren, sieht sich nur als verlassene Braut, die einer anderen Frau weichen muss.
Ein altes Theater – ausgebrannt und verlassen – wird zur Spielstätte Bellinis letzter Oper, die hier in memoriam als eine Art Requiem aufgeführt wird. Das im 19. Jahrhundert immer populärer werdende Genre des Schauerromans der schwarzen Romantik wird hier zum ästhetischen Vorbild. Die Männer tragen Totenmasken nach Bellinis Abbild und umringen Elvira, die unruhig und albträumend auf einem Flügel liegt. Auf ihr lauert ein Nachtmahr, ein Succubus, der sie in ihren Träumen heimsucht. Dieser Todesengel, der Elvira zum verwechseln ähnelt, taucht immer wieder auf, um sie heimzusuchen und das Geschehen zu beeinflussen. Er ist ein Schatten ihrer selbst. Elvira wird zur Heldin eines Schauerromans – als personifizierte Unschuld, in ein langes weißes Kleid gehüllt und von Albträumen verfolgt.
Ihre weibliche Hysterie und ihr Wahnsinn werden zum dramatischen Mittel, um sie als zutiefst verunsicherte Frau darzustellen, deren Glück sich komplett in der Hand ihres Bräutigams befindet. Stets von dunklen Schatten umgeben scheint sie ihr Unglück bereits vorauszuahnen. Einmal betrogen kann Arturo sie nicht wieder von seiner Treue überzeugen. Elvira wird sich letztendlich des Verrats an ihr bewusst und handelt: Lieber tötet sie Arturo, als ihn nochmals zu verlieren.
Während Bellinis Musik den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens bildet, weist das Libretto des an Theatererfahrung mangelnden Carlo Pepoli einige Ungereimtheiten und dramatische Schwächen auf. Diese vermag Vincent Boussards Regie jedoch nicht komplett auszumerzen. Er entledigt sich der puritanischen Zwänge und schafft stattdessen ein bemerkenswertes Psychogramm des seelischen Verfalls einer Frau; die Darstellung Elviras innerer Gefühlswelt ist der faszinierendste Part des Abends. Die Rahmenhandlung leidet jedoch unter der Vielzahl seiner Ideen, die zunehmend verwirren statt Klarheit schaffen. Boussard gelingt es nicht, sich für eine Interpretationsweise zu entscheiden. Stattdessen verknüpft er mehrere, zugegebenermaßen recht interessante Handlungsstränge, um sie parallel voranzutreiben. Die recht distanziert wirkende Personenregie und statischen Bewegungen der Akteure sind dem nicht zuträglich.
Zum Schluss der Oper gelingt ihm jedoch ein interessanter Coup, indem er ganz in Shakespeare'scher „alle Welt ist Bühne“-Manier alle Darsteller wieder auf(er)stehen lässt. Im „Theater im Theater“ erheben sich alle, gehen zum Bühnenrand und verbeugen sich. Während der Applaus verhallt erfahren sie vom Ende des Kriegs und Boussard gewährt den Darstellern – wenn auch verspätet – das von Bellini und Pepoli vorgesehene glückliche Ende.
Brenda Rae überzeugte in der Titelpartie als einfühlsame, zarte, aber dennoch ihren Neurosen erlegene Frau. Stimmlich beherrschte sie sowohl die zartesten pianissimi als auch schwindelerregende Koloraturen und sang sich als Elvira in einen stimmlichen Exzess, der an Faszination seinesgleichen sucht. Iurii Samoilov, ein Bassbariton mit einer schier unerschöpflichen, stählernen Stimme stellte Riccardo als mitfühlenden, tragischen Antihelden dar. Lord Valton, gesungen von Kihwan Sim, trat in der Rolle des Vater als distinguierter Bass in stimmlicher Perfektion auf. Der Tenor John Osborn, der sich auf das Belcanto-Fach spezialisiert hat, bestach durch sein helles, strahlendes Timbre, stieß jedoch in den Höhen an seine Grenzen.
Die Neuentdeckung des Abends ist jedoch zweifelsohne die Mezzosopranistin Bianca Andrew aus dem Frankfurter Opernstudio, die Enrichetta nicht nur mit einer ausdrucksstarken kräftigen Stimme sang, sondern ihr auch eine expressive Bühnenpräsenz verlieh. Tito Ceccherini lieferte ein ebenso versiertes wie emotionales Dirigat ab und schuf einen ungeahnt runden und schönen Becanto-Klang im Frankfurter Opernhaus. So wurde dieser Abend musikalisch Bellinis Anweisungen, "die Oper muss die Leute zum Weinen bringen, mit Grauen erfüllen, sie durch Gesang sterben lassen", gerecht.