Am 21. März feierten wir Johann Sebastian Bachs 340. Geburtstag, in heutigen Zeiten zugleich Europäischer Tag der Alten Musik. So selbstverständlich auch die Thüringer Bachwochen, das Musikfest zu Ehren des Komponisten in dessen Heimat, welches zum offiziell zweiten Tag seiner diesjährigen, doch traditionell stets um und nach Ostern erfolgenden Ausgabe nun unter neuem Intendanten Carsten Hinrichs Dietrich Buxtehudes Membra Jesu nostri mit Gli Incogniti und dem Basler Vokalensemble Voces Suaves im Programm unter der Gesamtüberschrift „Ende und Anfang aller Musik“ hatte.

Jenen anziehenden, siebenteiligen Kantatenreigen des dänisch-deutschen Musikgurus damaliger barocker Periode, zu dem Bach 1705 teils zu Fuß von Arnstadt nach Lübeck pilgerte, um von ihm zu lernen. Luftlinie beider Städte übrigens: Knapp 340 Kilometer. Sowohl die Zahl als auch das Merkmal des Fußes, mit dem das 1680 komponierte Werk in Betrachtung der Gliedmaßen des leidenden Jesus am Kreuz beginnt, sind dabei zufällige Parameter – nice to have könnte man sagen, gut für einen Aufhänger. Inhaltlich gehaltvoller – neben der nicht zufälligen Zahl Buxtehudes gegliederter Concerto-Arien-Sätze – zu erwähnen, ist die Grundlage Membra Jesu nostris in Arnulf von Löwens Rhythmica oratio/Oratio Rhythmica aus dem 13. Jahrhundert. Derer hatte sich zuvor auch Paul Gerhardt für seinen berüchtigten Choral O Haupt voll Blut und Wunden bedient, der Einzug in Bachs Matthäuspassion fand.
Das gehörte Pferd gemäß des diesjährigen Festivalleitspruchs hier symbolschwanger von hinten und somit im Gedenken und Wissen um die Vita-Aeterna-Kraft vorausblickend aufgezäumt, schien Incogniti-Leiterin Amandine Beyer Buxtehudes gelöstes „Amen“-Tutti der finalen, knackig-gestärkten Ad faciem-Kantate ihrerseits als fundamentale Grundinspiration sinnig wie ausgleichend verstanden zu haben, dem Stück trotz seiner mystischen Anlage im sich ausbreitenden Pietismus weder das allzu strenge noch als Gegenentwurf das exaltiert operntheatralische, überdehnte Wort zu reden. Vielmehr kam durch den Mittelweg Gli Incognitis mit in sich vereinendem Ansatz Voces Suaves‘ deren individuelles Merkmal der flüssigen Natürlichkeit und durch Harmonie sprechenden Theatralik zum Ausdruck, die ihrerseits die bestimmte, demütige Würde und fruchtige Zuneigung des Gläubigen zu Jesus mitfühlend zum Tragen brachte.
Dafür befleißigte sich Christina Boner als sehr eingängig intonierender Sopran II eines im Vergleich zu ihren vier Mitvokalisten stilistisch betrachtet leicht auffälligeren Vibratos. Es trübte allerdings weder entscheidend noch im Gros die Homogenität, zumal sich einerseits bedächtiger, doch im Timbre schärfer durchdringender Sopran I Sara Jäggis dieser Stilistik ab der Ad genua-Kantate zunehmend anschloss; sie andererseits mit der Instrumentalphrasierung am besten korrespondierte, die wiederum dank des vertrauten Eingespieltseins der beiden Gruppen im Ganzen aufging. Auch mit einer gewichtigen Aussteuerung durch das ATB-Trio einer ein wenig trockeneren, umso angenehmeren, farbwärmenden Stimme Anne Bierwirths, eines licht-weichen, flacheren, aber lebhafteren Zacharie Fogals und eines sonor-routinierten Joachim Höchbauers. Die gemeinsame, warme Klangrede fußte grundlegend auf einer Verständlichkeit und im oben skizzierten vortrefflichen Artikulationsmedian gehaltenen Dynamik, die den Affekt-Effekt zuließ und ermöglichte, im Ad pectus die Hand auf der Körperstelle und im Ad cor den sukzessive realisierteren Anblick zu spüren, wenngleich Gli Incogniti dort in praktikabler Tour- und allgemein häufig anzutreffender Besetzung auf die Originalität des fünfstimmigen Gambenconsorts verzichtete.
Apropos praktikabel, trotzen die Instrumente, vor allem Darmsaiten und Wirbel von Geigen und Violone, mit beeindruckender Erfahrung und Gelassenheit den kaltklimatischen Widrigkeiten in der Weimarer Herderkirche. Zudem verdanken wir überhaupt dem schwedischen Barockmusiker, Buxtehudefreund und riesigen Musikaliensammler Gustaf Düben, Widmungsträger des Werks, die Membra Jesu nostri, so dass Gli Incogniti zwei zusätzliche Sonaten (BuxWV 271 und 272) aus dessen Schatz aufführte. Erste in G als Vorgeschmack bereits die Verbindung zum erwähnten „Amen“ setzend, berührte die Zweite in a, insbesondere durch die atmosphärisch innige „Passacaglia“, als herrlichstes Liebeszeugnis zum Eintritt in die Karwoche.