15 Jahre benötigte Johannes Brahms, im Lichte des Übervaters Beethoven und persönlicher Fügung seine Erste Symphonie von anfänglichen Notierungen über Bearbeitungen, überzeugterer Komposition, Uraufführung und erneuter Ausbesserung letztlich wirklich in die Drucklegung zu geben. 15 Jahre dauerte es auch, bis sich Raphaël Pichon und Pygmalion nach Gründung erstmals 2021 dem zuvor erstellten Deutschen Requiem näherten, das kürzlich in einer Aufnahme aus letzter lobhudeligen Tourhistorie veröffentlicht wurde, nachdem Dirigent und Ensembles bereits einige Brahms-Lieder eingespielt hatten. Zur üblichen Herbsttour, jetzt mit Abschluss im Konzerthaus Dortmund, widmeten sie sich dem Schicksalslied, der ersten der zwei Motetten, Op.74, den jeweils von Pygmalion-Kontrafagottist Robert Percival arrangierten Vier ernsten Gesängen und dem Geistlichen Lied, Op.30, allesamt Werke, die sich thematisch auch um das Requiem drehen, sowie der im Charakter mit Choralsatz eben passenden Ersten Symphonie.

Raphaël Pichon dirigiert das Ensemble Pygmalion © Fred Mortagne
Raphaël Pichon dirigiert das Ensemble Pygmalion
© Fred Mortagne

Die aus dieser Synopse erkenntliche, typische Pichon-Dramaturgie sollte der Dirigent interpretatorisch zu einem plastischen wie drastischen, gewohnt attaca-ineinanderübergehenden Brahms-Psychogramm modellieren, das den werklichen und metaphysischen, religiösen Prozess bei der Frage von Existenz und Schicksal auf spannendste Weise erfahrbar machte. Das bedeutete extreme, theatralische Kontraste, die sich im Ausgangspunkt der Motette Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen? auf textlicher und stimmungsinduzierter Basis im quälenden Fragewort und in den nicht minder zerreißenden langen Pausen der grübelnden Stille vor dem mit sphärischer und hingebender Emphase ausgebreiteten gläubig-fatalistischen Trost äußerten. Abseits der grandiosen Artikulation des Chœur de Pygmalion lebte diese Hoffnung bereits von einem innigen, inneren Fluss, den Brahms elementar umgesetzt sehen wollte.

Instrumental, selbstverständlich mit den vom Komponisten geliebten Naturhörnern, tat dem das Orchestre de Pygmalion mit erstem Einsatz in den hervorragend arrangierten Vier ernsten Gesängen mit höchst vitalen dynamischen Schwellern und organisch gelungenen, agogischen Übergängen genüge, allein mit dem Schönheitsmakel der amerikanischen und somit noch ahistorischeren Streicheraufstellung als bisher schon. Jene Phrasierungsmarker, die (nahezu) gänzliche Vibratolosigkeit und die beginnenden, sagenhaften Reize Koen Plaetincks Pauken, allesamt zu Brahms' Gefallen, erzeugten eine packende, intensive Idiomatik, die Grundlage war für Stéphane Degouts Gesang voller prophetisch-orakelnder Autorität. Eine, die sich in nicht besserer Kongruenz ihrer jeweiligen Essenzhaltigkeit auf eine fantastische Bariton-Registergewandtheit und Verständlichkeit stützte, um im finalen „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen“ der von Konzertmeister Afanasy Chupin solistisch besonders illuminierten Liebe, größte aller Hoffnungen und Schicksale, im plagegebeutelten Dasein die weise Kraft ihrer Wirkung zu verleihen.

Hob Percival die Naturhörner in dem durch den ästhetisch klaren wie nahbaren, freilich immer dicht vom Text gefesselten Stil Pygmalions ins Herz geschossene Geistliche Lied hervor, brillierte erste Partie Anneke Scott daran im Schicksalslied. Mit ihr, dem aufgehenden Flair der selbstgütlichen Annahme Gottes Fügung durch Georgia Brownes Flöte sowie insgesamt der lautmalerischen Pracht von Chor und orchestralem Tutti bot sich eine erhebende wie erhabene Leichtigkeit, die in erfrischender Transparenz herrlichstes Spiegelbild und psychereinigendes Ergebnis der harten, ungewiss-dystopischen Rastlosigkeit mit brennenden Streichern, Bläsern und Pauken war.

Plaetincks Kessel und mit ihnen das Ausreizen der Instrumente, abermals neben der Perkussion vor allem dem der Naturhörner, loderten in noch alle Wow-Erwartungen übertroffener Art schließlich in Brahms‘ Erster Symphonie, als im Kopfsatz bedrohlich hämmerndes Schicksal, bestimmte Verdammnis-Akzeptanz, das mystische, unbändig arbeitende Warum, nervenaufreibende Jagd, im Andante sostenuto und munteren Un poco allegretto e grazioso lieblicher Schimmer und im letzten Satz hymnisch aufklarende Erlösung mit gänsehautevozierendem Flirren durch den Saal strömten. Das „con brio“ allgemein und zu einer einzigartig mitreißend schnellen, extravaganten Schlusscoda somit (ebenfalls) wörtlich genommen, verpasste Pichon Brahms ein neues, adriges Gesicht jenseits allzu vermeintlich protestantischer Mattheit. 

Preiswürdig wie übrigens das auch seinerzeit im Konzerthaus aufgeführte Mozart-Requiem, dessen Aufnahme die Deutsche Schallplatten-Kritik vor Ort nun mit einem Jahrespreis ehrte, nachdem Pygmalion „Wo ist so ein herrlich Volk“ aus Brahms‘ Fest- und Gedenksprüchen als Zugabe seiner Extraklasse intoniert hatte.

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