Dass die Spielzeit 2023/24 der Berliner Philharmoniker unter dem Motto „Heroes“ steht, soll sicherlich nicht dazu verleiten, in jedem zu hörenden Werk nach dem Heldentum in der Musik zu suchen. An diesem Abend sollte es vor allem eine Heldin im Orchester geben: Vineta Sareika-Völkner.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker © Monika Rittershaus
Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker
© Monika Rittershaus

Max Reger wollte in seinen Mozart-Variationen „eine Partitur voller Grazie“ komponieren, eine „denkbar einfachste und unschuldigste Musik“. Darin folgten ihm Kirill Petrenko und die Philharmoniker, indem sie dem Thema die duftigsten Gestalten entlockten. Leider ließen sie dabei in den ersten beiden Variationen und auch in der siebenten das Thema als Hauptstimme alles andere dominieren und verharmlosten so die Kontrapunkte zum Beiwerk. Dabei hatte Reger tönende Spiegelkabinette komponiert, deren einzelne Stimmen im Zusammenhang eine Polyphonie entstehen ließen, in der die thematisch führende Stimme eben nicht nur begleitet werden möchte. 

Ab der dritten Variation gelang es dann, eine Entwicklung in der Veränderung so zu gestalten, dass dabei der Bezug zum Thema beibehalten wurde. Beeindruckend gelang die Fuge vor allem dort, wo, wie zu Anfang, geradezu ziselierend gearbeitet wurde. In Flöte und Oboe erklang ein nur noch sehr entfernt mit Mozarts Vorlage verwandtes zweites Thema, das auch nicht so streng durchzuführen ist wie das erste. Reger kombinierte diese beiden Themen zu einem Außenstimmensatz, der das in den Trompeten nun majestätisch hervortretende Mozart-Thema umklammert. Hier blieb dem Dirigenten und seinem Orchester nichts anderes übrig, als diese am Charakter des Mozart-Themas doch ziemlich vorbeikomponierte regelrecht „falsche“ Heroik nicht noch mehr zu monumentalisieren, sondern das dem Vorbild abgerungene Bekenntnis so dezent wie möglich zu gestalten.

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Vineta Sareika-Völkner
© Monika Rittershaus

Mit der Tondichtung Ein Heldenleben von Richard Strauss gab es ein direkt auf das Motto der Saison bezogenes Werk zu hören. Das Orchester war glänzend dazu aufgelegt, „einen Helden im Kampf mit seinen Feinden“ zu musikalisieren, wie es Strauss selbst einmal sagte. Was in der Darbietung Regers noch an manchen Stellen fehlte, das gelang hier bestens: die Durchleuchtung der Orchesterpolyphonie, in der die Hierarchie der Themen stets Berücksichtigung fand. Im Hauptthema ließen die Philharmoniker den Helden als jugendlichen Enthusiasten auftreten, der seinen schöpferischen Kräften grenzenlos vertraut. Die Widersacher meldeten sich in einer ganz entstellten Musik zu Wort; scharf quäkten schnarrend und keifend die Holzbläser und die Tuben blökten ihre Quintparallelen dazu. Dann kam der große Auftritt der neuen Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner. Sie trug das heikle Violinsolo so vor, wie es vielseitiger wohl kaum einmal gespielt worden ist: zornig, hysterisch, kapriziös, kokett, schmeichelnd, verzweifelt und vor allem unberechenbar – und dies oft in einer Phrase wechselnd. Im festen Fundament traten die Bässe geduldig diesem Übermut entgegen. Trotz aller Streitigkeiten fanden sich Held und Gefährtin schließlich zu einem innigen Liebesduett zusammen.

Wie im Filmschnitt brach die Durchführung als tönendes Schlachtengemälde ein, in dem regelrecht gewalttätig musiziert wurde, als die drei Themen der Exposition durcheinander gewirbelt wurden, ohne dass der Überblick dabei verloren ging. Am Anfang der Reprise verhinderte eine kleine Unaufmerksamkeit in der Aufführung, dass das erstmals in der Grundtonart stehende Thema der Gefährtin gemeinsam mit dem Heldenthema ein Stimmenpaar bildete, sondern von ihm regelrecht übermannt wurde. Im Geleit der von Dominik Wollenweber so liebevoll wie tonschön vorgetragenen bukolisch besänftigten Englischhorn-Variante des Heldenmotivs schienen sich Held und Gefährtin aus der Welt in ein Nirgendwo zurückzuziehen. Doch wer glaubte, dass in dem feinsinnig von Horn und Sologeige vorgetragenen letzten Dialog die beiden nun dem Irdischen entschwebten, rechnete nicht mit der Schlusspointe der Tondichtung: In kräftigen Bläserakkorden dehnte Petrenko die Dreiklangsbrechung des Hauptthemas am Ende wie in Zeitlupe und ließ sie im Crescendo aufsteigen. Kann dieser Held vielleicht gar nicht aufhören zu kämpfen, weil sein eigentlicher Gegner kein Widersacher, sondern er selbst ist?

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